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»Wie alt war Cunningham eigentlich, Mylady?« fragte Fandorin mit gerunzelter Stirn.

»Dreiunddreißig«, gab die Lady, ohne zu zögern, Auskunft. »Am 16. Oktober wäre er vierunddreißig geworden. An seinem Geburtstag pflegte Gerald eine Feier für die Kinder zu veranstalten, und nicht er bekam Geschenke, sondern die Kinder wurden von ihm beschenkt. Das muß ihn fast sein ganzes Gehalt gekostet haben .«

»Nein, das haut nicht hin!« rief Fandorin aufs höchste bestürzt.

»Was haut nicht hin, mein Junge?« fragte die Lady erstaunt.

»Entrepide ist vor zwanzig Jahren aus dem Meer gefischt worden! Da war Cunningham gerade dreizehn. Und Dobbs scheffelte sein Vermögen vor einem viertel Jahrhundert, als Cunningham noch nicht einmal Waise war! Er kann es nicht sein!«

»Wovon reden Sie?« Die Engländerin konnte Fandorins Gedanken nicht folgen, zwinkerte irritiert mit ihren blauen Augen.

Fandorin starrte die Lady an, wortlos, von einem furchtbaren Verdacht erfüllt.

»Also nicht Cunningham«, flüsterte er. »Sondern . Sie! Sie waren vor zwanzig und fünfundzwanzig und vierzig Jahren auf der Welt! Wer, wenn nicht Sie! Cunningham ist in der Tat nur Ihre rechte Hand gewesen. Vierzigtausend Zöglinge - wenn man es recht bedenkt, alles Ihre Kinder! >Sie hat mehr für uns beide getan als jede Mutter<, habe ich Morbid und Franz sagen hören, und jetzt wird mir klar, daß Sie gemeint waren und nicht Amalia! Einem jedem verhalfen Sie zum Lebensziel, einen jeden brachten Sie >auf den richtigen Weg!< Unglaublich ist das, ganz unglaublich!« Fandorin stöhnte wie unter Schmerzen. »Sie haben Ihre pädagogische Theorie von Anfang an dazu mißbraucht, eine Weltverschwörung anzuzetteln!«

»Na! Nun nicht von Anfang an«, entgegnete Lady Aster seelenruhig; mit ihr war eine Wandlung vor sich gegangen, die schwer zu beschreiben, doch nicht zu übersehen war. Nicht mehr die sanfte, friedvolle Alte saß Fandorin gegenüber. Ihre Augen sprühten vor Esprit, Selbstgerechtigkeit und unbeugsamer Kraft. »Zuerst wollte ich wirklich nichts anderes, als die armen, obdachlosen Menschenkinder zu retten. Ich wollte sie glücklich machen - so viele, wie ich konnte. Hundert oder tausend, gleichviel. Doch meine Bemühungen waren wie ein Tropfen Wasser auf den heißen Stein. Während ich ein Kind rettete, wurden Tausende und Abertausende dieser kleinen, mit Gottes Funken beseelten Menschen vom grausamen Moloch der Gesellschaft verschlungen. Ich begriff, daß meine Arbeit sinnlos war. Man kann das Meer nicht mit dem Löffel ausschöpfen.« Lady Asters Stimme gewann immer mehr an Festigkeit, die gebeugten Schultern strafften sich. »Und außerdem verstand ich, daß der Herrgott mich zu mehr befugt hat. Ich kann nicht nur eine Handvoll Waisenkinder retten, ich kann die Welt retten. Vielleicht nicht zu Lebzeiten, vielleicht erst zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre nach meinem Tod. Das ist meine Berufung, meine Mission. Jedes meiner Kinder ist ein Juwel, ist die Krone der Schöpfung, ein Ritter des neuen Menschentums. Jedes erbringt unermeßlichen Nutzen, wird mit seinem Leben die Welt zum Besseren wenden. Sie verfassen weise Gesetze, entlocken der Natur ihre Geheimnisse, schaffen erlesene Kunstwerke. Von Jahr zu Jahr werden es mehr, und es kommt der Tag, da haben sie diese garstige, ungerechte, verbrecherische Welt verwandelt!«

»Erzählen Sie mir doch nichts von Geheimnissen der Natur und erlesenen Kunstwerken!« versetzte Fandorin sarkastisch. »Ihnen geht es einzig um Macht. Ich habe doch die Listen gesehen: Da waren nichts als Generäle und künftige Minister.«

Die Lady lächelte herablassend.

»Mein Lieber, Sie müssen wissen, daß Cunningham bei mir lediglich für die Kategorie F zuständig war - eine von vielen. F bedeutet Force, also das, was die Mechanismen der Machtausübung im engen Sinne betrifft: Politik, Staatsapparat, Militär, Polizei und so weiter. Daneben gibt es die Kategorie S - Science, die Kategorie A - Arts, die Kategorie B - Business. Und andere. Ich habe in den vierzig Jahren meiner pädagogischen Tätigkeit sechszehntausendachthundertdreiundneunzig Menschen auf den richtigen Weg geführt. Sehen Sie denn nicht, welch rasanten Aufschwung Wissenschaft, Technik, Kunst, Jurisprudenz und Industrie in den letzten Jahrzehnten genommen haben? Sehen Sie nicht, daß die Welt seit Mitte unseres neunzehnten Jahrhunderts besser, vernünftiger, schöner geworden ist? Es vollzieht sich eine wahrhaftige, friedliche Revolution! Und sie ist absolut notwendig, andernfalls wird die Welt, so ungerecht, wie sie eingerichtet ist, von einer anderen, blutigen Revolution heimgesucht werden, die die Menschheit um Jahrhunderte zurückwürfe. Tag für Tag tun meine Kinder das Ihre, die Welt zu retten. Und warten Sie ab, was erst in kommenden Jahren passieren wird. Sie hatten mich übrigens gefragt, warum ich keine Mädchen aufnehme. Ich gestehe, Sie damals belogen zu haben. Ich nehme Mädchen. Allerdings nur wenige. In der Schweiz gibt es ein spezielles Asternat, an dem meine teuren Töchter erzogen werden. Ein ganz exquisites Material, womöglich kostbarer als meine Söhne. Mit einer von ihnen hatten Sie bereits das Vergnügen.« Die Lady zeigte ein verschlagenes Lächeln. »Derzeit führt sie sich freilich etwas unvernünftig auf, hat ihre Pflicht vorübergehend aus den Augen verloren. Das kommt vor bei jungen Frauen. Doch sie wird zu mir zurückfinden, dessen bin ich gewiß. Ich kenne meine Mädchen.«

Fandorin entnahm diesen Worten, daß Surow Amalia wohl doch nicht erschossen, sondern irgendwohin entführt hatte; dennoch rührte die Erwähnung dieser Person an alte Wunden und dämpfte vorübergehend die - allerdings gehörige - Bestürzung, die die Ausführungen der Baronesse bei ihm ausgelöst hatten.

»Ein edler Zweck ist freilich aller Ehren wert!« brauste er auf. »Aber wie steht es um die Mittel? Einen Menschen zu töten ist für Sie dasselbe, wie eine Mücke zu erschlagen!«

»Das ist nicht wahr!« entrüstete sich die Lady. »Jedes vergeudete Leben bedauere ich zutiefst. Doch man kann die Augiasställe nicht ausmisten, ohne sich schmutzig zu machen. Ein Toter läßt tausend, ach, eine Million andere leben.«

»Kokorin zum Beispiel, wen hat der leben lassen?« erkundigte sich Fandorin bissig.

»Mit dem Geld dieses nichtsnutzigen jungen Lebemannes forme ich Tausende helle Köpfe für Rußland und die Welt. Nein, mein Lieber, da kann man nichts machen. Nicht ich habe die Welt so grausam eingerichtet, alles in ihr hat seinen Preis, und im konkreten Fall halte ich ihn für durchaus angemessen.«

»Und wofür mußte Achtyrzew sterben?«

»Erstens war er viel zu geschwätzig. Zweitens hat er Ama- lia über die Maßen zugesetzt. Und drittens haben Sie Iwan Brilling doch selbst auf das Erdöl in Baku hingewiesen. Niemand wird Achtyrzews Testament anfechten können, es bleibt in Kraft.«

»Polizeiliche Ermittlungen fürchteten Sie nicht?«

»Ach wo!« sagte die Lady schulterzuckend. »Ich wußte, mein lieber Brilling würde alles in rechte Bahnen lenken. Ihm war diese glänzende analytische und organisatorische Begabung in die Wiege gelegt. Was für eine Tragödie, daß er nicht mehr unter uns weilt. Brilling hätte es ideal hinbekommen, wäre da nicht ein überaus eifriger junger Gentleman gewesen. Da haben wir alle großes, großes Pech gehabt.«

An dieser Stelle fiel es Fandorin endlich ein, mißtrauisch zu werden.

»Mylady, sagen Sie mal ... Warum sind Sie eigentlich so offenherzig zu mir? Sie glauben doch nicht etwa, mich für Ihren Orden missionieren zu können? Liebend gern wäre ich auf Ihrer Seite, Mylady, doch bei diesen Methoden, bei all dem vergossenen Blut .«

»Nein, mein Freund«, unterbrach ihn die Lady mit einem milden Lächeln, »ich mache mir keine Hoffnungen, daß meine Propaganda bei Ihnen auf fruchtbaren Boden fallen könnte. Leider sind wir uns allzu spät begegnet: Ihr Geist, Ihr Charakter, Ihr ganzes moralisches Wertesystem sind bereits so festgefügt, daß sich kaum noch etwas ändern läßt. Meine Offenherzigkeit Ihnen gegenüber hat dreierlei Gründe. Erstens sind Sie ein blitzgescheiter junger Mann und mir ausgesprochen sympathisch. Ich möchte keinesfalls, daß Sie ein Monster in mir sehen. Zweitens waren Sie so leichtsinnig, vom Bahnhof direkt hierherzufahren, ohne erst