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Und dann war es zu spät - die Geräusche des Schulbetriebs blieben hinter ihm zurück. Fandorin registrierte, daß man ihn eine Treppe hinaufbeförderte; eine Tür knarrte, ein Schlüssel drehte sich im Schloß.

Noch durch den geschlossenen Wimpernvorhang fiel ihm auf, wie hell das elektrische Licht war, das eben anging. Schnell hatte er mit einem blinzelnden Auge die Einrichtung des Raumes erfaßt: porzellanene Apparaturen, Kabel, Metallspulen. All dies gefiel ihm überhaupt nicht. Aus der Ferne hörte er eine Glocke schellen, die wohl das Ende der Schulstunde verkündete; beinahe sogleich tönte helles Kindergeschrei.

»Ich hoffe, alles geht gut«, seufzte Lady Aster. »Es täte mir leid, wenn der Junge dran glauben müßte.«

»Ganz meine Hoffnung, Mylady«, erwiderte der Professor, dem man die Erregung anhörte, und schepperte mit irgend etwas. »Bedauerlicherweise fordert die Wissenschaft immer wieder ihren Tribut. Für jeden noch so kleinen Fortschritt ist ein hoher Preis zu zahlen. Mit Sentiment kommt man nicht weit. Aber wenn Ihnen an dem jungen Mann so viel liegt - warum hat Ihr Bär den Kutscher vergiftet, anstatt ihm Schlafpulver unterzurühren? Ich hätte fürs erste gern mit dem Kutscher vorliebgenommen und mir den jungen Mann für später aufgehoben. Das hätte seine Überlebenschance erhöht.«

»Sie haben völlig recht, mein Lieber. Das war ein unverzeihlicher Fehler.« In der Stimme der Lady schwang aufrichtige Reue. »Ich bitte Sie dennoch, tun Sie Ihr Bestes. Und erklären Sie mir noch einmal, was genau Sie mit ihm vorhaben.«

Fandorin spitzte die Ohren - diese Frage interessierte auch ihn ungemein.

»Sie kennen ja meine kardinale Idee«, begann der Professor in leidenschaftlichem Ton und ließ sogar das Scheppern sein. »Ich bin der Ansicht, daß die Nutzbarmachung der Naturkraft Elektrizität für das kommende Jahrhundert von entscheidender Bedeutung sein wird. Doch, doch, Mylady!

Noch ganze vierundzwanzig Jahre trennen uns vom zwanzigsten Jahrhundert, das ist nicht mehr viel. Das nächste Jahrhundert wird die Welt von Grund auf verändern, sie wird nicht wiederzuerkennen sein, und all dies dank der Elektrizität. Sie ist nicht bloß Kunstlichtlieferant, wie manche profanen Geister glauben. Sie vermag wahre Wunder zu vollbringen, im kleinen wie im großen Stil. Stellen Sie sich eine Kutsche ohne Pferde vor, von einem Elektromotor gezogen! Oder eine Eisenbahn ohne Dampflokomotive - schnell, sauber und geräuschlos! Oder aber mächtige Kanonen, die den Feind mit einem gezielten Blitzschlag niedermähen! Und auch die Post, ganz ohne Pferde!«

»All dies haben Sie mir schon Dutzende Male erzählt«, fiel die Baronesse dem feurigen Redner milde ins Wort. »Erläutern Sie mir die medizinische Anwendung der Elektrizität.«

»Oh, das ist das Allerinteressanteste!« ereiferte der Professor sich noch mehr. »Das ist diejenige Sphäre der elektrischen Wissenschaft, der ich mein Leben zu widmen gedenke. Während die Makroelektrizität - Turbinen, Motoren, mächtige Dynamomaschinen - zur Verwandlung der Außenwelt führt, wird die Mikroelektrizität den Menschen selbst verändern, die natürlichen Konstruktionsfehler des Homo sapiens korrigieren. Elektrophysiologie und Elektrotherapie werden die Menschheit retten - und bestimmt nicht Ihre Schlaumeier, die sich als große Politiker gebärden, geschweige diese lächerlichen Bilderkleckser!«

»Da haben Sie unrecht, mein Lieber. Auch die tun ein wichtiges und nützliches Werk. Aber fahren Sie fort.«

»Ich werde Ihnen die Möglichkeit in die Hand geben, jedweden Menschen so zu machen, wie Sie ihn haben wollen: ideal, von all seinen Mängeln befreit. Alle Defekte, die das menschliche Verhalten beeinträchtigen, nisten hier, in der

Hirnrinde.« Ein harter Finger klopfte schmerzhaft an Fan- dorins Schädel. »Vereinfacht gesagt, es gibt im Hirn verschiedene Sektoren: zuständig für das logische Denken, für die Genüsse, die Angst, die Enthemmung, den Geschlechtstrieb und so weiter und so fort. Der Mensch könnte eine harmonische Persönlichkeit sein, wenn alle Sektoren gleich gut funktionierten, was aber leider fast niemals der Fall ist. Bei dem einen ist jener Sektor überentwickelt, der den Selbsterhaltungstrieb steuert, und dieser Mensch zeigt sich als pathologischer Feigling. Beim anderen funktioniert die Logikzone unzureichend, der Mann ist ein ausgemachter Dummkopf. Meine Theorie besteht darin, daß sich mit Hilfe der Elektrotherapie, also des gezielten, streng dosierten Einsatzes elektrischer Entladungen, bestimmte Hirnsektoren stimulieren und andere, ungünstig wirkende, dämpfen lassen.«

»Das ist sehr, sehr interessant«, sagte die Baronesse. »Sie wissen, mein lieber Gebhardt, daß ich die Finanzierung Ihrer Forschungen bislang in keiner Weise eingeschränkt habe, erlauben Sie mir trotzdem die Frage, woher Sie die Gewißheit nehmen, daß eine solche Korrektur der Psyche prinzipiell möglich ist?«

»Sie ist möglich! Daran kann es nicht den geringsten Zweifel geben! Haben Sie nicht davon gehört, Mylady, daß in den Grabstätten der alten Inka Schädel gefunden wurden, die hier an dieser Stelle immer die gleichen Löcher aufweisen?« Schon wieder war der Finger zweimal auf Fandorins Kopf niedergestoßen. »Das ist der Bezirk, der für die Angst verantwortlich zeichnet. Die Inka wußten das und bohrten den Knaben der Kriegerkaste mit ihren primitiven Werkzeugen die Feigheit aus dem Schädel, machten sie so zu furchtlosen Soldaten. Oder erinnern Sie sich an die Maus!«

»Ja, Ihre tapfere Maus, die sich auf die Katze gestürzt hat, das fand ich sehr beeindruckend.«

»Und das war erst der Anfang. Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der es keine Verbrecher gibt! Brutale Mörder, Triebtäter, Taschendiebe werden nach ihrer Ergreifung nicht hingerichtet oder ins Straflager geschickt, an ihnen wird lediglich eine kleine Operation vollzogen, und die Unglücklichen sind ihre krankhafte Brutalität, ihre Wollust, ihre unmäßige Gier ein für allemal los und können zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft werden! Oder stellen Sie sich vor, man unterzöge einen Ihrer ohnehin so begabten Jungen meiner Elektrotherapie und steigerte seine Begabung noch um ein Vielfaches!«

»Nein, meine Jungen kriegen Sie nicht!« wehrte die Baronesse ab. »Zuviel Talent kann einen in den Wahnsinn treiben. Experimentieren Sie lieber mit Verbrechern. Aber sagen Sie, was hat es mit Ihrem sogenannten reinen Menschen auf sich?«

»Das ist eine vergleichsweise einfache Operation. Sie auszuführen glaube ich schon beinahe in der Lage zu sein. Man kann dem Gedächtnissektor einen Stromstoß versetzen, und aus dem menschlichen Hirn wird ein unbeschriebenes Blatt, so als wäre man mit dem Radiergummi darüber hinweggegangen. Alle intellektuellen Begabungen bleiben erhalten, während die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten ausgemerzt werden. Heraus kommt ein Mensch in vollkommener Unschuld, wie neugeboren. Erinnern Sie sich an das Experiment mit dem Frosch? Nach der Operation hatte er das Springen verlernt, ohne die motorischen Reflexe eingebüßt zu haben. Er wußte nicht mehr, wie man Fliegen fängt, doch der Schluckreflex war noch vorhanden. Theoretisch hätte man ihm all dies wieder beibringen können. Und wenn wir nun unseren jungen Patienten hernehmen ... Was steht ihr beiden herum und gafft? Nehmt ihn und legt ihn hier auf den Tisch. Macht schnell!«

Es war soweit! Fandorin konzentrierte sich. Doch Andrew, dieser Schuft, packte ihn so fest bei den Schultern, daß der Versuch, nach der Pistole zu greifen, nicht lohnte. Während dessen hantierte Timothy mit etwas, es machte klack, und die Stahlreifen, die dem Gefangenen die Brust geschnürt hatten, waren weg.

»Ein, zwei, hopp!« kommandierte Timothy, der Fandorin bei den Beinen nahm, während Andrew ihn, ohne den Griff um seine Schultern zu lockern, mühelos aus dem Sessel hob.