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Das Versuchsobjekt wurde auf den Tisch bugsiert, Andrew hielt die Ellbogen fest, der Portier die Knöchel. Das Holster drückte Fandorin gemein in die Hüfte. Erneut schellte die Glocke - die Pause war vorüber.

»Ich werde zwei Hirnsektoren synchron mit einem elektrischen Stromstoß behandeln. Danach wird der Patient aller vorherigen Lebenserfahrung ledig und sozusagen wieder zum Kleinkind geworden sein. Er wird alles wieder neu lernen müssen: zu gehen, zu kauen, die Toilette zu benutzen, späterhin das Lesen, Schreiben und so weiter. Ich denke, Ihre Pädagogen dürfte das interessieren. Zumal Sie sich ja im Falle dieses Individuums bereits ein Bild über die vorhandenen Anlagen machen konnten.«

»O ja. Er verfügt über eine hohe Reaktionsschnelligkeit, viel Mut, ein gut entwickeltes logisches Denken und eine einzigartige Intuition. Ich hoffe, all dies wird wiederherzustellen sein.«

Unter anderen Umständen hätte Erast Fandorin sich von solch beifälliger Charakteristik geschmeichelt gefühlt. Jetzt aber packte ihn das kalte Grausen: Er malte sich aus, als

Wickelkind mit Schnuller im Mund in einer rosa Wiege zu liegen und vor sich hin zu lallen, Lady Aster beugt sich über ihn und sagt mit vorwurfsvoller Stimme: »Ei, was sind wir böseböse, haben uns schon wieder naß gemacht!« Lieber sterben!

»Er zuckt, Sir!« Andrew tat zum ersten Mal den Mund auf. »Nicht, daß er uns noch aufwacht.«

»Unmöglich«, beschwichtigte ihn der Professor. »Die Narkose hält mindestens zwei Stunden vor. Leichte Konvulsionen sind ganz normal. Das Risiko liegt in folgendem, Mylady. Zur exakten Bemessung der nötigen Stromstärke bin ich leider noch nicht gekommen. Ein Zuviel an elektrischer Ladung kann den Patienten töten oder zum bleibenden Idioten machen. Ein Zuwenig bewirkt, daß dunkle Restbilder in der Hirnrinde verbleiben, die sich später unter Einwirkung äußerer Reize zu gewissen Erinnerungen fügen könnten.«

Die Baronesse schwieg eine Weile, dann sagte sie mit unüberhörbarem Bedauern: »Das können wir nicht riskieren. Geben Sie lieber etwas mehr.«

Ein obskures Surren setzte ein und sodann ein Knistern, von dem Fandorin eine Gänsehaut bekam.

»Andrew, scheren Sie ihm am Kopf zwei kleine Kreise frei - hier und hier!« befahl Blank und griff dem Liegenden in die Haare. »Ich muß die Elektroden ansetzen.«

»Nein, das soll Timothy machen!« entschied Lady Aster kategorisch. »Und ich lasse Sie allein. Ich möchte das nicht mit ansehen, sonst kann ich heute nacht nicht schlafen. Andrew, du kommst mit. Ich habe noch ein paar dringende Depeschen zu schreiben, die trägst du zum Telegrafen. Wir müssen Vorkehrungen treffen - man wird unseren Freund recht bald vermissen.«

»Schon recht, Mylady, Sie würden mich doch nur stören«, erwiderte der Professor zerstreut, von seinen Vorbereitungen ganz in Anspruch genommen. »Ich werde Sie das Ergebnis schleunigst wissen lassen.«

Endlich löste sich der Klammergriff, der Fandorins Ellbogen niedergedrückt hatte.

Kaum hatten sich die Schritte auf dem Flur entfernt, schlug Fandorin die Augen auf, riß seine Beine los, streckte die Knie blitzschnell wieder und trat Timothy dabei so kräftig vor die Brust, daß er in die Ecke flog. Im nächsten Moment war Fandorin vom Tisch auf den Boden gesprungen und zog, blinzelnd vom grellen Licht, die brave Herstal unter dem Rockschoß hervor.

»Keine Bewegung, oder ich schieße!« zischte der Auferstandene, nach Rache gierend, und hatte tatsächlich in diesem Augenblick nicht übel Lust, die beiden niederzuschießen: den blöde mit den Augen klappernden Timothy ebenso wie den verrückten Professor, der verdutzt mit zwei Stahlklammern in der Hand vor ihm stand. Von den Klammern führten dünne Drähte zu einer komplizierten, Funken spuckenden Maschine. Überhaupt gab es in dem Laboratorium allerlei interessante Gerätschaften zu sehen - sie zu betrachten war leider nicht der Moment.

Der Portier unternahm keinen Versuch, auf die Füße zu kommen, schlug nur ein zaghaftes Kreuz; Blank hingegen verhielt sich weniger harmlos. Fandorin hatte den Eindruck, als sei der Gelehrte nicht im geringsten erschrocken, nur wütend über den eingetretenen Zwischenfall, der sein Experiment gefährdete. Gleich stürzt er sich auf mich! schoß es Fandorin durch den Kopf. Die Mordlust verging ihm, war augenblicklich vorüber.

»Keine Dummheiten! Bleiben Sie, wo Sie sind!« schrie Fandorin, die Stimme zitterte ihm ein wenig.

Im selben Moment brüllte Blank los, auf deutsch: »Schweinehund! Du hast alles verdorben!«

Und warf sich auf sein Versuchsobjekt, wobei er mit der Hüfte gegen die Tischkante stieß.

Fandorin drückte ab. Nichts geschah. Die Sicherung! Er entriegelte sie. Dann schoß er, zweimal hintereinander. Es gab einen Doppelknall, pa-pamm! - und der Professor fiel kopfüber nach vorn, dem Schützen direkt vor die Füße.

Fandorin, der einen Angriff von hinten befürchtete, fuhr herum, die Waffe immer noch im Anschlag, doch Timothy hockte, den Rücken gegen die Wand gepreßt, in der Ecke und hob zu winseln an: »Nicht schießen, Euer Ehren! Ich kann nichts dafür! So wahr mir Gott helfe! Euer Wohlgeboren!«

»Steh auf, du Lump!« bellte Fandorin, halb taub und vollkommen entfesselt. »Vorwärts marsch!«

Er stieß dem Portier die Pistole in den Rücken, jagte ihn über den Korridor, die Stiege hinunter. Der Portier lief mit trippelnden Schritten und zeterte jedes Mal, wenn der Lauf ihm zwischen die Rippen fuhr.

Im Nu hatten sie den Pausenflur durchquert. Fandorin sah mit Absicht nicht in die Klassenräume, wo die Lehrer standen und große Augen machten und hinter ihren Rücken die Kinder in den blauen Uniformen stumm hervorlugten.

»Polizei!« rief Fandorin. »Keiner verläßt die Klassen! Die Lehrer auch nicht!«

Im Laufschritt fegten sie durch die lange Galerie und gelangten in den Seitenflügel. Vor der weißgoldenen Tür versetzte Fandorin Timothy einen derben Stoß. Der Portier knallte mit der Stirn gegen die Tür, die davon aufsprang. Er taumelte. Drinnen war niemand. Das Zimmer war leer!

»Vorwärts marsch! Alle Türen aufschließen!« befahl

Fandorin. »Und paß ja auf: Wenn du Zicken machst, erschieße ich dich wie einen Hund!«

Erschrocken schlug der Portier die Hände zusammen und raste zurück auf den Flur. Binnen fünf Minuten hatten sie alle im Parterre gelegenen Zimmer durchsucht. Keine Menschenseele. Einzig in der Küche lag, vornüber auf den Tisch gekippt, das leblose Gesicht zur Seite gedreht, der arme Kutscher und schlief seinen ewigen Schlaf. Fandorin sah kurz auf die Zuckerkrümel in seinem Bart, die Teepfütze, dann befahl er Timothy, sich zu sputen.

Im ersten Stock befanden sich zwei Schlafzimmer, eine Kleiderkammer und die Bibliothek. Auch hier waren die Baronesse und ihr Lakai nicht anzutreffen. Wo zum Teufel steckten sie? Hatten sie die Schüsse gehört und hielten sich irgendwo im Asternat verborgen? Waren sie womöglich auf und davon?

In seiner Rage fuchtelte Fandorin so wild mit der Pistole, daß sich ein Schuß löste. Pfeifend prallte die Kugel von Wand zu Wand und schlug dann durch das Fenster, in dem sie nicht mehr als ein sternförmig gezacktes Löchlein hinterließ. Verdammt, er hatte die Pistole zu sichern vergessen, und der Abzug ging leicht; Fandorin schüttelte den Kopf, um das Dröhnen in den Ohren loszuwerden.

Bei Timothy rief der versehentliche Schuß eine verblüffende Wirkung hervor. Er fiel auf die Knie und barmte: »Euer Wohl- . Euer Hochwohlgeboren, laßt mich am Leben! Der Teufel hat mich geritten! Ich will ja beichten! Mein armes Frauchen, meine lieben Kinderlein! Ich zeig es Euch! Ich zeig Euch alles, so wahr mir Gott helfe! Im Keller sind sie, im geheimen Verlies! Ich zeig es Euch, verschont mich nur, o weh!«

»In was für einem Verlies?« fragte Fandorin drohend und hob die Pistole, so als wollte er wirklich im nächsten Moment zur Vergeltung schreiten.

»So folgt mir doch, bitte sehr, folgt mir nur!«