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Der Portier sprang auf und geleitete Fandorin, sich jeden Moment umdrehend, wieder hinab ins Kabinett der Baronesse.

»Ganz zufällig bin ich drauf gestoßen. Unsereins haben sie nich reingelassen. Kein Vertrauen in die Dienerschaft. Wozu auch: Russenmenschen, rechtgläubige Seelen, kein angelsächsisches Blut!« Timothy bekreuzigte sich. »Nur ihr Andrew durfte rein, wir nie und nimmer nich.«

Er lief hinter den Schreibtisch, drehte einen Griff am Sekretär. Augenblicklich fuhr dieser zur Seite und gab eine kleine kupferne Tür frei.

»Aufmachen!« befahl Fandorin.

Timothy bekreuzigte sich noch dreimal, bevor er die Tür aufstieß. Sie gab lautlos nach, eine Treppe wurde sichtbar, die abwärts führte und sich im Dunkeln verlor.

Den Portier mit Püffen vor sich her treibend, begann Fan- dorin vorsichtig hinabzusteigen. Unten stieß die Treppe auf eine Wand, doch nach rechts führte ein niedriger Gang.

»Los, geh weiter!« zischte Fandorin den zaudernden Timothy an.

Sie bogen um die Ecke, dahinter war es stockfinster. Man hätte eine Kerze mitnehmen sollen! dachte Fandorin. Gerade fuhr er mit der linken Hand in die Tasche, um nach Zündhölzern zu suchen, als es vor ihm blitzte und krachte. Der Portier ging ächzend zu Boden. Im selben Moment hatte Fandorin schon die Hand mit der Herstal ausgestreckt und schoß so oft und so lange, bis der Schlagbolzen nur noch in die leeren Hülsen tickte. Dröhnende Stille trat ein. Fando- rin fand mit zitternden Fingern die Schachtel, riß ein Zündholz an. Timothy kauerte an der Wand und regte sich nicht mehr. Fandorin lief ein paar Schritte nach vorn und sah Andrew, den Lakaien, bäuchlings am Boden liegen. Das Flämm- chen flackerte, vollführte einen kurzen Tanz in Andrews glasigen Augen und erlosch.

Im Dunkeln, so lehrt der große Fouchet, muß man die Augen zusammenkneifen und bis dreißig zählen, damit die Pupillen Zeit haben, sich zu weiten, worauf das Auge in der Lage sein wird, selbst die geringste Lichtquelle zu erkennen. Sicherheitshalber zählte Fandorin bis vierzig, ehe er die Augen aufschlug - und richtig, da vorn war ein Streifen Licht. Die Hand mit der nutzlosen Herstal vor sich gestreckt, tat er einen ersten Schritt, dann noch einen und noch einen - und erkannte plötzlich eine angelehnte Tür, aus deren Spalt der schwache Schein drang. Dort mußte die Baronesse sein. Entschlossen ging Fandorin auf den Lichtstreifen zu und stieß die Tür auf.

Er sah in eine kleine Kammer mit Regalen längs der Wände. In der Mitte stand ein Tisch, darauf ein bronzener Leuchter mit Kerze. Im Spiel von Licht und Schatten erkannte er Lady Asters Gesicht.

»Kommen Sie herein, mein Junge!« sagte sie ruhig. »Ich habe auf Sie gewartet.«

Kaum hatte Fandorin die Schwelle überschritten, als die Tür hinter seinem Rücken jäh ins Schloß fiel. Er zuckte zusammen, wandte sich um und sah, daß die Tür weder Knauf noch Klinke hatte.

»Treten Sie näher«, bat die Lady leise. »Ich möchte Ihnen ins Gesicht schauen, denn es ist das Gesicht des Schicksals. Sie sind der Stein, der mir im Weg gelegen hat. Ein Steinchen nur, über das zu stolpern mir beschieden war.«

Fandorin schluckte die Kränkung, die dem Vergleich innewohnte, trat zum Tisch und sah, daß die Baronesse ein blankes metallisches Kästchen vor sich liegen hatte.

»Was ist das?« fragte er.

»Dazu kommen wir gleich. Was haben Sie Gebhardt angetan?«

»Er ist tot. Selber schuld. Hätte mir nicht vor die Kimme springen müssen«, erwiderte Fandorin grob; daran, daß er binnen weniger Minuten zwei Menschen umgebracht hatte, wollte er jetzt nicht denken müssen.

»Das ist ein schwerer Verlust für die Menschheit. Vielleicht war er von Natur aus etwas sonderbar und gehemmt, doch als Wissenschaftler war er ein ganz Großer. Wieder ein Asa- sel weniger .«

Fandorin horchte auf.

»Was heißt das, ein Asasel?« brach es aus ihm hervor. »Was hat dieser Satan mit Ihren Waisenkindern zu schaffen?«

»Asasel ist kein Satan, mein Junge. Er ist das großartige Symbol für einen Erlöser und Erleuchter der Menschheit. Der Herr hat diese Welt erschaffen, er schuf die Menschen und überließ sie sich selbst. Doch die Menschen sind schwach und blind, so furchtbar blind, daß sie Gottes Werk zur Hölle gemacht haben. Die Menschheit wäre längst ausgemerzt, wenn nicht von Zeit zu Zeit Ausnahmepersönlichkeiten geboren würden. Keine Dämonen und keine Götter, heros civilisateurs nenne ich sie. Jedem von ihnen hat die Welt einen Sprung nach vorn zu verdanken. Prometheus hat uns das Feuer gegeben. Moses den Gesetzesbegriff. Christus gab uns das moralische Gerüst. Doch der bedeutsamste dieser Heroen ist der jüdische Asasel, der die Menschen das Empfinden ihrer eigenen Würde gelehrt hat. Im Buch Henoch steht geschrieben: >Er war von Liebe zu den Menschen voll und entdeckte ihnen die Geheimnisse, die er im

Himmel erfahren hatte.< Der Mensch bekam von ihm den Spiegel zum Geschenk, damit er den Menschen hinter sich sehen konnte - das heißt, damit er ein Gedächtnis hatte und seine Vergangenheit erkennen konnte. Den Mann versetzte Asasel in die Lage, ein Handwerk betreiben und sein Haus beschützen zu können. Die Frau ermächtigte er, vom braven, fruchtbaren Weibchen zum ebenbürtigen Menschen zu reifen, frei wählen zu dürfen: häßlich zu sein oder schön, Mutter oder Amazone, für die Familie zu leben oder für die ganze Menschheit. Gott hat dem Menschen die Karten in die Hand gegeben, Asasel aber hat ihn gelehrt, wie man damit spielen muß, um zu gewinnen. Jeder meiner Sprößlinge ist ein Asasel, auch wenn sie es nicht alle wissen .«

»Was heißt, nicht alle?« unterbrach Fandorin ihren Redefluß.

»In den hohen Zweck sind nur die wenigsten eingeweiht, die allertreuesten und unbeugsamsten«, erläuterte die Lady. »Sie sind es, die alle schmutzige Arbeit auf sich nehmen, damit die übrigen meiner Kinder unbefleckt bleiben können. Es ist meine Avantgarde, die insgeheim und Schritt für Schritt das Steuer ergreifen und den Lauf der Welt lenken soll. Oh, wie wird dieser Planet erblühen, wenn meine Asa- sels einmal die Führung übernommen haben! Und es könnte durchaus bald soweit sein - in zwanzig Jahren vielleicht schon . Die übrigen Zöglinge der Asternate gehen derweil ihren Weg durch das Leben und tun der Menschheit unermeßlich viel Gutes. Ich aber beobachte ihr Treiben, freue mich über ihre Erfolge und weiß, in der Not wird keiner von ihnen seiner Mutter die Hilfe versagen. Ich frage mich, was nun aus ihnen wird, wenn ich nicht mehr bin? Wie wird es der Welt ergehen? . Ach was. Asasel wird leben, der Bund wird meine Sache zu Ende führen.«

Fandorin war entrüstet.

»Ihre getreuen und unbeugsamen Asasels habe ich zur Genüge kennengelernt! Morbid und Franz und Andrew und den mit den Fischaugen, der Achtyrzew auf dem Gewissen hat! Ist sie das, Ihre Avantgarde, Mylady? Die Würdigsten unter den Würdigen?«

»Nicht sie allein. Doch sie gehören dazu. Ich habe Ihnen schon erzählt, mein Freund, daß manches meiner Kinder Mühe hat, seinen Weg in der heutigen Welt zu finden, weil seine Gabe nur in ferner Vergangenheit etwas wert war oder aber erst in ferner Zukunft benötigt wird, entsinnen Sie sich? Genau diese Zöglinge sind meine treuesten und ergebensten Vollstrecker. Die einen sind das Hirn, die anderen der Arm, so ist das nun mal. Der Mann, der Achtyrzew aus der Welt geschafft hat, gehört übrigens gar nicht dazu. Er ist unser zeitweiliger Verbündeter.«

Die Finger der Baronesse schienen von allein über die polierte Oberfläche des Kästchens zu wandern und drückten wie zufällig und nebenbei einen kleinen, runden Knopf.

»So, das war’s, mein lieber Junge. Uns beiden bleiben noch zwei Minuten. Gemeinsam scheiden wir aus diesem Leben. Es tut mir leid, ich kann Sie nicht verschonen. Sie würden meinen Kindern nur Schaden zufügen.«

»Was ist das?« schrie Fandorin und ergriff das Kästchen, das überraschend schwer war. »Eine Bombe?«

»Nun ja«, bestätigte Lady Aster und zeigte ein mitfühlendes Lächeln. »Der Zeitzünder. Die Erfindung eines meiner begabtesten Jungen. Solche Kästchen gibt es mit unterschiedlichen Mechanismen: für dreißig Sekunden, zwei Stunden oder sogar zwölf. Sie zu öffnen und den Mechanismus zu stoppen ist unmöglich. Dieses hier ist auf einhundertzwanzig Sekunden eingestellt. Ich gehe mit meinem