Archiv in den Tod. Mein Leben ist vorbei, doch was ich zu leisten vermochte ist nicht wenig. Meine Sache wird fortgeführt werden, und man wird meiner im Guten gedenken.«
Fandorin versuchte den Knopf an dem Kästchen mit den Fingernägeln zu fassen, doch das mißlang. Als nächstes warf er sich gegen die Tür, bearbeitete sie mit Händen, mit Fäusten. Das Blut pulste ihm in den Ohren, im Sekundentakt.
»Lisanka!« stöhnte der todgeweihte Fandorin voller Verzweiflung. »Mylady! Ich will nicht sterben! Ich bin jung! Ich bin verliebt!«
Mitleidig blickte Lady Aster ihn an. Sie rang sichtlich mit sich selbst.
»Könnten Sie mir versprechen, daß Sie ihr Leben nicht dafür verwenden werden, Jagd auf meine Kinder zu machen?« fragte sie leise und sah dem jungen Mann in die Augen.
»Ich schwöre es!« rief Fandorin aus. Er hätte in diesem Moment alles versprochen, was man von ihm wollte.
Nach einer langen, quälend langen Pause lächelte die Lady ihr sanftes, mütterliches Lächeln.
»Gut. Leben Sie, mein Junge, leben Sie wohl. Aber sputen Sie sich, Sie haben noch vierzig Sekunden.«
Sie fuhr mit der Hand unter den Tisch, und die kupferne Tür ging knarrend nach innen auf.
Fandorin warf einen letzten Blick auf die reglos sitzende weißhaarige Frau und die flackernde Kerze, dann sprang er mit Riesensätzen durch den finsteren Gang. Er rannte in vollem Lauf gegen eine Wand, kroch auf allen vieren die Treppe empor; im Kabinett der Lady angekommen, rappelte er sich auf und war mit zwei Sprüngen draußen.
Keine zehn Sekunden später flog die eichene Eingangstür des Seitengebäudes mit einem so wuchtigen Stoß auf, daß sie aus den Angeln zu springen drohte, und ein junger Mann mit krampfhaft verzerrtem Gesicht kam Hals über Kopf die Freitreppe herabgestürmt. Er raste die stille, schattige Straße entlang bis zur nächsten Ecke und blieb dort keuchend stehen. Sah sich um, stand still, wartete.
Sekunden vergingen, in denen nichts passierte. Holdes Sonnenlicht vergoldete die Pappelkronen, auf einer Bank döste eine fuchsrote Katze, irgendwo auf einem Hof gackerten Hühner.
Erast Fandorin griff sich an das wild hämmernde Herz. Sie hatte ihn getäuscht! Vorgeführt wie einen kleinen Jungen! War längst durch den Hinterausgang geschlüpft und über alle Berge!
Er röhrte vor ohnmächtiger Wut, und der Seitentrakt des Asternats schien ihm mit einem Grollen zu antworten. Die Wände erbebten, das Dach schwankte kaum merklich, und von irgendwo tief unten, wie aus dem Schoß der Erde, dröhnte dumpf die Explosion.
LETZTES KAPITEL,
in welchem unser Held von seiner Jugend Abschied nimmt
Fragen Sie einen beliebigen Einwohner unserer alten und ewigen Metropole, wann denn die beste Zeit sei, in den Stand der Ehe zu treten, und Sie werden selbstverständlich zur Antwort bekommen, daß ein vernünftiger und ernstzunehmender Mann, gewillt, sein Familienleben von allem Anfang an auf ein solides Fundament zu stellen, unbedingt gegen Ende September vor den Altar tritt, weil diese Jahreszeit nun einmal ideal dazu angetan ist, auf die lange und friedvolle Reise über den Ozean des Lebens zu gehen. Der September in Moskau ist satt und faul, mit goldenem Brokat und dem Purpurglanz des Ahorns geschmückt wie eine Kaufmannsfrau aus Samoskworetschje in ihrer schönsten Tracht. Legt man die Hochzeit auf den letzten Sonntag, so wird der Himmel gewiß blau sein, azurblau, und die Sonne wird mit Maß und Zartgefühl scheinen, so daß der Bräutigam nicht schwitzen muß unter seinem steifen, hochgeschlossenen Hemdkragen und dem engen schwarzen Frack, die Braut wiederum, in ihrem zauberhaften, luftig-ätherischen Gewand, für das kein passender Name zu denken ist, sich nicht etwa einen Schnupfen holt.
Für den Akt der Trauung die rechte Kirche zu finden ist eine wahre Wissenschaft. Gottlob hat, wer in der Stadt der tausend goldenen Kuppeln wohnt, die Qual der Wahl, wodurch die Verantwortung freilich nicht geringer wird. Alteingesessene Moskauer wissen zum Beispiel, daß es sich in
Maria Himmelfahrt an der Sretenka im alten Druckerviertel trefflich heiraten läßt: Die Vermählten leben lang, und sie sterben zuletzt am selben Tag. Wem freilich an einer vielköpfigen Nachkommenschaft liegt, der ist mit Sankt Nikolai am Großen Kreuz besser beraten, welch Gotteshaus sich in Kitai-Gorod über ein ganzes Geviert erstreckt. Wer Häuslichkeit und stilles Behagen über alles schätzt, der wähle Sankt Pimen im Wächterviertel, Staryje Worotniki. Ist er ein Mann des Militärs, der seine Tage jedoch mitnichten auf dem Feld der Ehre, sondern am heimischen Herd und nah den Seinen beschließen möchte, so sollte er sein Ehegelöbnis in Wspolje, Sankt Georg am Rain, ablegen. Und natürlich wird keine liebende Mutter ihrer Tochter gestatten, sich in Sankt Barbara an der Warwarka trauen zu lassen, um ihr restliches Leben in Qual und Pein, am Bettelstab zu verbringen.
Was indes die vornehmen und hochrangigen Herrschaften angeht, so schränkt sich die Auswahl für sie gehörig ein, denn die Kirche muß stattlich und geräumig genug sein, all die vielen Gäste unterzubringen, die man die Creme der Moskauer Gesellschaft nennt. Zu der Trauung nun, die eben in der pompösen Kirche von Slastoustino ihrem Ende zuging, hatte sich »ganz Moskau« eingefunden. Am Portal, vor der langen Kette von Equipagen drängten sich die Gaffer und zeigten einander die Kutsche Seiner Durchlaucht des Generalgouverneurs, Fürst Wladimir Andrejewitsch Dolgoruki, dessen Anwesenheit darauf schließen ließ, daß die Hochzeit ihrer Bedeutsamkeit nach ganz weit oben rangierte.
In die Kirche war man nur auf besondere Einladung gelangt - nichtsdestoweniger waren an die zweihundert Gäste zusammengekommen. Viele blitzende Uniformen gab es zu bestaunen, militärische ebenso wie zivile Ränge, viele entblößte Damenschultern, hochaufgetürmte Frisuren,
Ordensbänder, Sterne und Brillanten. In sämtlichen Kronleuchtern und Kandelabern brannten Kerzen. Das Ritual zog sich schon geraume Zeit hin, und die Anwesenden wurden allmählich müde. Zwar zeigte sich die Weiblichkeit, gleich welchen Alters und Familienstandes, ausnahmslos entzückt und ergriffen, die Herren indes, sichtlich leidend, waren bereits in halblaute Gespräche vertieft, deren Inhalt wenig hierher gehörte. Man hatte das junge Ehepaar schon zur Genüge diskutiert. Den Brautvater Alexander Apollodorowitsch von Ewert-Kolokolzew, seines Zeichens Wirklicher Geheimrat, kannte in Moskau ein jeder, und seine liebreizende Tochter Jelisaweta Alexandrowna war seit dem vorigen Jahr wiederholt auf Bällen gesichtet worden; so war es vor allem der Bräutigam, Erast Petrowitsch Fandorin, welcher Neugier erregte. Über ihn wußte man kaum etwas. Kein Hiesiger, soviel war sicher, ein Sprößling aus der Hauptstadt und in Moskau nur hin und wieder auf Grund höherer Mission zugange, ein Karrierist also, der vor dem Altar an Staatsmacht hinzugewann. Dem Range nach einstweilen bescheiden, doch sehr jung noch und rasch aufwärts strebend. In seinem Alter den Wladimir-Orden am Revers, das hatte schon etwas zu sagen. Klug war der alte Ewert-Kolokolzew, er investierte in die Zukunft.
Die Damen hingegen hatten eher den Blick für die Zartheit und Schönheit des jungen Paares, und sie konnten sich nicht satt sehen. Rührend der Bräutigam in seiner Aufregung, wurde abwechselnd rot und blaß, stotterte sich durch das Gelöbnis - mit einem Wort, allerliebst. Und erst die Braut, Lisanka Ewert-Kolokolzewa, sie erschien als ein ganz und gar überirdisches Geschöpf, das Herz schlug einem bis zum Halse, wenn man sie nur sah: das weiße, wolkige Kleid, der schwerelose Schleier, der Brautkranz aus sächsischen Moosröslein - alles genau so, wie es sein mußte. Im entscheidenden Moment, da die Brautleute aus dem Kelch mit dem Wein nippten und den Kuß tauschten, schien die Braut nicht im geringsten verlegen, im Gegenteiclass="underline" Ein Strahlen ging ihr über das Gesicht, und sie flüsterte dem Bräutigam etwas zu, wovon ihm gleichfalls ein Lächeln auf die Lippen trat.