Was Lisanka Erast ins Ohr flüsterte, war dies: »Die arme Lisa hat sich’s überlegt. Sie geht doch nicht ins Wasser und heiratet lieber.«
Für Fandorin war der bisherige Tag eine Strapaze gewesen: er stand im Blickpunkt der Öffentlichkeit und war den Übergriffen seiner Umgebung hilflos ausgeliefert. Scharen ehemaliger Schulkameraden waren aufgetaucht sowie »alte Freunde« des Vaters (die sich das ganze letzte Jahr nicht hatten blicken lassen, nun waren sie plötzlich wieder da). Zuerst schleppten sie Fandorin zum Junggesellenfrühstück ins »Prag«, eine Kneipe am Arbat, wo er viele derbe Rippenstöße bekam, man zwinkerte ihm zu und bekundete aus unerfindlichen Gründen Beileid. Dann ging es zurück ins Hotel, ein Friseur namens Pierre erschien und zerrte ihn lange und schmerzhaft an den Haaren, bis sie eine schwungvolle Tolle ergaben. Lisanka durfte er vor dem Kirchgang nicht mehr sehen, was gleichfalls äußerst peinigend war. In den drei Tagen seit seiner Ankunft aus Petersburg, wo der Bräutigam nunmehr Dienst tat, hatte er sie ohnehin kaum gesehen - immerzu war sie von Hochzeitsvorbereitungen in Anspruch genommen.
Schließlich hatte der gute alte Xaveri Gruschin als Hochzeitsmarschall in Frack und weißer Schärpe, puterrot im Gesicht von den Anstrengungen des Junggesellenfrühstücks, den Bräutigam neben sich in eine offene Kutsche gesetzt und war mit ihm zur Kirche gefahren. Während Fandorin auf den Stufen gestanden und auf die Braut gewartet hatte, erschollen Rufe aus der Menge, ein Fräulein warf eine Rose nach ihm, die ihm die Wange zerkratzte. Endlich wurde Lisanka gebracht, kaum zu erkennen unter den wogenden Schleiern. Seite an Seite standen sie vor dem Analogion, der Chor sang, der Priester sprach sein »Denn ein barmherziger und menschenliebender Gott bist Du« und noch einiges andere, die Ringe wurden getauscht, sie nahmen Aufstellung auf dem Teppich, und endlich sprach Lisanka diese Worte über die arme Lisa, welche Wunder bewirkten: Ruhe kehrte in ihn ein, er sah um sich, erkannte Gesichter, schaute in die hohe Kirchenkuppel, und ihm wurde wohl.
Das Wohlgefühl hielt an, während alle kamen und mit herzlichen, innigen Worten gratulierten. Besonders gefiel ihm der Generalgouverneur, ein dicker, gutmütiger Mann mit rundem Gesicht und Hängeschnauzer. Er habe schon viel Schmeichelhaftes über Fandorin gehört, sagte er, und wünsche von Herzen eine glückliche Ehe.
Sie traten vor die Kirche, allgemeiner Jubel empfing sie, doch man sah kaum etwas, da die helle Sonne blendete. Er nahm mit Lisanka in der offenen Kutsche Platz, es duftete nach Blumen.
Lisanka streifte den langen weißen Handschuh ab und drückte kräftig seine Hand. Verstohlen näherte er das Gesicht ihrem Schleier und sog schnell den Geruch ihrer Haare, ihres Parfüms und ihrer frischen Haut ein. In diesem Moment (sie fuhren gerade durch das Nikitskije- Tor) ging Fandorins Blick zufällig über die Treppe der Auferstehungskirche - und sein Herz krampfte sich jäh zusammen.
Fandorin sah zwei Knirpse von acht, neun Jahren dort sitzen. Verloren hockten sie in ihren abgerissenen blauen Uniformen zwischen den übrigen Almosensammlern, ihre dünnen Stimmchen intonierten irgendeinen Bittgesang. Neugierig drehten die kleinen Bettelbrüder ihre Hälse nach dem prächtigen Hochzeitskonvoi.
»Was hast du, mein Lieber?« fragte Lisanka erschrocken, als sie sah, wie bleich ihr Angetrauter geworden war.
Fandorin antwortete nicht.
Die Inspektion des Geheimkellers unter dem Seitenflügel des Asternats hatte keinerlei Resultate erbracht. Die Bombe unbekannter Bauart war so heftig und dabei so kompakt detoniert, daß das Haus kaum beschädigt, von dem Kellergelaß jedoch so gut wie nichts übrig war. Das Archiv war vollständig vernichtet. Keine Spur von Lady Asters Leiche, außer einem Fetzen Seidenstoff.
Seines Hauptes (und hauptsächlichen Geldgebers) beraubt, war das weltweite Asternatssystem dem schnellen Verfall preisgegeben. In einigen Ländern waren die Waisenheime vom Staat oder von wohltätigen Gesellschaften übernommen worden, die meisten Institute jedoch hörten schlicht auf zu existieren. Die beiden russischen Asternate wurden per Erlaß des Bildungsministeriums als Brutstätten der Gottlosigkeit und schädlicher Ideen angeprangert und geschlossen. Die Lehrer suchten schleunigst das Weite, ein Großteil der Kinder zerstreute sich in alle Winde.
Mit Hilfe der bei Cunningham gefundenen Liste gelang es, achtzehn vormalige Asternats-Zöglinge zu identifizieren, was jedoch wenig einbrachte, da sich nicht nachweisen ließ, wer von ihnen der Organisation »Asasel« angehörte und wer nicht. Immerhin führten die Nachforschungen dazu, daß fünf von ihnen (darunter der portugiesische
Minister) ihre Ämter niederlegten, zwei verübten Selbstmord, einer (nämlich der brasilianische Leibwächter) wurde gar hingerichtet. Aufgrund umfangreicher, grenzüberschreitender Ermittlungen entdeckte man in der Folge noch eine Vielzahl weiterer honorabler Persönlichkeiten, die früher eine Asternatsschule besucht hatten. Etliche von ihnen machten überhaupt keinen Hehl daraus, waren stolz auf die dort genossene Erziehung. Gut, es gab auch »Kinder der Lady Aster«, die lieber untertauchten, um den Argusaugen von Polizei und Geheimdiensten zu entfliehen, die meisten jedoch blieben, denn ihnen war nichts anzulasten. Dennoch war ihnen der Zugang zu höheren Staatsämtern von nun an verwehrt - wie in feudalen Zeiten begann man auf Herkunft und Stammbaum wieder peinlich genau achtzugeben, damit bloß kein »Findelkind« (so der Terminus, den man in kompetenten Kreisen für Lady Asters Zöglinge pflegte) die Karriereleiter emporgekrochen kam. Im übrigen verhinderten sorgfältige, zwischen den einzelnen Regierungen abgestimmte Maßregeln der Diskretion und Konspiration, daß die Öffentlichkeit von den Säuberungen erfuhr. Eine Zeitlang hielten sich Gerüchte über eine Weltverschwörung von Freimaurern oder Juden beziehungsweise beiden zusammen, es fiel der Name Disraeli, doch bald wurde es darum wieder still, zumal auf dem Balkan jene ernsthafte Krise heranreifte, die zu Erschütterungen in ganz Europa führen sollte.
Die Dienstpflichten zwangen Fandorin, an den Ermittlungen in der Sache Asasel teilzuhaben - wobei er jedoch so wenig Eifer an den Tag legte, daß es General Misinow für geraten hielt, den jungen, fähigen Mitarbeiter mit anderen Aufgaben zu betrauen, die Fandorin um so bereitwilliger erfüllte. Dennoch war ihm bewußt, daß sein Gewissen in dieser Angelegenheit nicht ganz rein und seine Rolle einigermaßen zwiespältig war. Der Schwur, den er vor der Baronesse geleistet und zu brechen nicht umhin gekonnt hatte, trübte ihm die Vorfreude auf das ersehnte große Ereignis beträchtlich.
Und nun geschah es also, daß die Opfer von »Selbstlosigkeit, Heldenmut und löblichem Eifer« eines Erast Fandorin (so hatte es im Erlaß Seiner Majestät zur Ordensverleihung geheißen) ihm just am Tage seiner Hochzeit unter die Augen traten.
Fandorin ließ den Kopf hängen, wurde mißmutig, so daß Lisanka nach Eintreffen im elterlichen Haus an der Malaja Nikitskaja entschlossene Maßnahmen ergriff: Sie zog sich mit ihrem übellaunigen Gemahl in die gleich hinter der Diele gelegene Ankleidekammer zurück, verbot ihren Angehörigen und dem Personal strengstens den unaufgeforderten Zutritt - was diese nicht weiter kümmerte, da sie alle Hände voll zu tun hatten, die eintreffenden Gäste bis zum Beginn des Banketts bei Laune zu halten. Aus der Küche, wo seit dem Morgengrauen die eigens verpflichteten Meisterköche aus dem »Slawjanski Basar« am Wirken waren, drangen himmlische Wohlgerüche; hinter den fest verschlossenen Türen des Tanzsaals probte das Orchester ein letztes Mal den Wiener Walzer - es ging also alles seinen Gang. Nur der demoralisierte Bräutigam mußte wieder aufgerichtet werden.