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Fandorin (eine gelinde Übertreibung, so beeilen wir uns anzumerken), aber nein, der Herr Kriminalbeamte geizte mit jedem fiskalischen Fünfer. Wobei man wissen mußte, daß die Behörde ihm selbst monatlich achtzig volle Rubel für einen eigenen Kutscher zugestand. Da hatte man sie wieder, die Privilegien von Amt und Würde: Der eine rollte mit personengebundener Droschke nach Hause, während der andere auf Schusters Rappen seinen Dienstpflichten nachging.

Aber da tauchten linker Hand über dem Dach des Kaffeehauses »Souchet« schon die Kuppeln der Dreifaltigkeitskirche auf, in deren Nachbarschaft sich das Hotel »Bojarskaja« befand, und Fandorin schritt aus - wichtigen Enthüllungen entgegen.

Eine halbe Stunde später trottete er niedergeschlagen, mit hängendem Kopf den Pokrowski Boulevard hinunter, wo die Tauben genauso dreist und verfressen waren wie auf dem Tschistoprudny, nur wurden sie nicht von adligen Tantchen gemästet, sondern von gutbürgerlichen.

Das Gespräch mit der Zeugin war unerfreulich ausgegangen. Fandorin hatte die Gutsfrau gerade noch erwischt, als sie in eine mit Koffern und Bündeln vollgestopfte Kutsche steigen wollte, um die Hauptstadt gen Gouvernement Ka- luga zu verlassen. Aus Sparsamkeitsgründen reiste Frau Spi- zyna nicht mit der Eisenbahn, sondern wie in alten Zeiten mit eigenem Gespann.

Das war gewiß noch ein Glück für Fandorin, denn hätte die Gutsfrau auf den Bahnhof gemußt, wäre es zu gar keinem Gespräch gekommen. Doch lief die Unterredung mit der geschwätzigen Zeugin, wie immer Fandorin ihr beizukommen suchte, nur auf eines hinaus: Xaveri Gruschin behielt recht. Frau Spizyna hatte Kokorin gesehen. Den Gehrock wußte sie zu erwähnen und den runden Hut - und noch dazu geknöpfte Lackstiefeletten, die den Zeugen im Alexandergarten entgangen waren.

Fandorins ganze Hoffnung lag nun auf Kukin, doch auch da würde Gruschin wohl recht behalten: Bestimmt hatte der Krämer drauflosgeredet, ohne nachzudenken, und jetzt rannte Fandorin ihm durch halb Moskau hinterher und machte sich vor seinem Vorgesetzten zum Gespött.

Die Kolonialwarenhandlung »Brykin & Söhne« lag mit der gläsernen Eingangstür, an die ein Zuckerhut gemalt war, zur Uferpromenade; die gesamte Brücke war, wie Fandorin sogleich bemerkte, von hier aus hervorragend zu überblicken. Des weiteren fiel ihm auf, daß die Ladenfenster, wohl der Schwüle wegen, offen standen, so daß Kukin das »metallische Klicken« tatsächlich hätte hören können; der nächste Brük- kenpfeiler war kaum fünfzehn Schritte entfernt. Ein Mann um die Vierzig, in rotem Hemd und schwarzer Weste, Samthosen und Reitstiefeln lugte neugierig aus der Ladentür.

»Darf’s etwas sein, der Herr?« fragte er. »Vom rechten Weg abgekommen?«

»Kukin?« fragte Fandorin streng, während er bezüglich der zu erwartenden Aussagen alle Hoffnungen fahren ließ.

»Zu Diensten!« Der Verkäufer zog verwundert die buschigen Brauen nach oben, erriet aber im nächsten Moment, was Sache war. »Der Herr kommen gewißlich von der Polizei? Aufrichtig verbunden, mit so viel Anteilnahme hatte ich ja nicht zu rechnen gewagt! Der Herr Wachtmeister äußerte sich dahingehend, daß die vorgesetzte Behörde sich schon kümmern würde, aber daß es so schnell geht, nein, wirklich. Was stehen wir denn hier auf der Schwelle, kommen Sie doch fern in den Laden, das freut mich aber, wie mich das freut!«

Er verbeugte sich, schob die Ladentür auf, machte eine einladende Geste - ich darf bitten, der Herr! - doch Fandorin rührte sich nicht vom Fleck.

»Ich komme nicht vom Polizeirevier, sondern vom Kriminalamt«, sagte er wichtig. »Mein Auftrag ist, den St. - ja, diesen Herrn ausfindig zu machen, bezüglich dessen Sie beim Herrn Reviervorsteher vorstellig wurden.«

»Den Stipenten?« soufflierte ihm der Verkäufer eilfertig. »Na, aber! Ich kann Ihnen sagen, der ist mir in vorzüglichster Erinnerung! Hab ich einen Schreck gekriegt, mein Gott. Wie ich sehe, da krabbelt einer auf den Pfeiler und hält sich die Pistole an den Kopf, das Herz ist mir in die Hose gerutscht, das war’s wohl, hab ich gedacht, wieder so ein Fall wie voriges Jahr, und du mußt deine Kunden die nächste Zeit mit der Beißzange in den Laden ziehen. Dabei kann unsereins doch gar nichts dafür! Was lockt die, wie die Fliegen der Mustopf, justament hierher? Sollen sie doch an die Moskwa runtergehen, da ist der Fluß tiefer, und die Brücken sind höher .«

»Hören Sie auf, Kukin«, fiel Fandorin ihm ins Wort. »Beschreiben Sie mir lieber den Studenten. Was er anhatte, wie er aussah und wie Sie überhaupt darauf kamen, daß es ein Student war.«

»Na, wie die Stipenten eben aussehen, das sieht man doch, Euer Ehren!« Der Verkäufer wunderte sich. »Die Uniform, die Knöpfe, das Nasenfahrrad .«

»Sagten Sie Uniform?« Fandorin wurde hellhörig. »Trug er denn eine Uniform?«

»Na, was dachten Sie?« Kukin sah den begriffstutzigen Beamten mitleidig an. »Wo soll ich sonst herwissen, ob so einer ein Stipent ist oder ob nicht? Glauben Sie, ich kann nicht an der Uniform erkennen, ob einer Stipent ist oder Amtsperson?«

Auf diese treuherzige Frage wußte Fandorin nun nichts zu erwidern; er zog ein akkurates Notizbüchlein nebst Bleistift aus der Tasche, um die Aussage festzuhalten. Das Büchlein hatte er gekauft, bevor er den Dienst beim Kriminalamt antrat, drei Wochen hatte es unbenutzt gelegen. Heute nun kam es ihm zupaß - seit dem Morgen hatte er schon mehrere Seiten mit winziger Schrift vollgeschrieben.

»Erzählen Sie mir, wie der Mann aussah.«

»Na, wie einer aussieht. Nicht weiter auffällig, bißchen picklig im Gesicht. Nasenfahrrad, wie gesagt .«

»Was genau - Brille oder Zwicker?«

»Na, so am Schnürchen.«

»Also ein Zwicker.« Fandorin kritzelte die Angabe in sein Büchlein. »Noch weitere besondere Merkmale?«

»Krumm stand er irgendwie. Der Kopf steckte fast ganz zwischen den Schultern. Eben ein Stipent, wie ich sage, hundertprozentig.«

Befremdet schaute Kukin auf die »Amtsperson«, die erst einmal gar nichts mehr sagte, sondern dastand, blinzelnd, lautlos die Lippen bewegend, das Büchlein in Händen drehte. Der Mann dachte nach, das sah man.

Uniform, picklig, Zwicker, stark gekrümmte Haltung stand in dem Büchlein vermerkt. Die Pickel - gut, die ließen sich übersehen. Ein Zwicker kam im Inventar von Kokorins Nachlaß nicht vor. Möglich, daß er ihn irgendwo fallengelassen hatte. Die Zeugen hatten keinen Zwicker erwähnt, wobei die zum Aussehen des Selbstmörders nicht extra befragt worden waren, wozu auch. Gekrümmte Haltung? Hm. Die »Moskauer Nachrichten« beschrieben ihn als »proper«, wobei der Reporter bei dem Vorfall nicht zugegen gewesen war, er hatte Kokorin nie gesehen, die Beschreibung konnte er um des Effektes willen hinzugedichtet haben. Blieb die

Studentenuniform - die war nun nicht so einfach abzutun. Hatte es sich bei dem Mann auf der Brücke um Kokorin gehandelt, dann mußte er sich im Zeitraum von elf bis halb eins umgezogen und den Gehrock angelegt haben. Fragte sich, wo. Von der Jausa zur Ostoshenka und von da wieder zur Feuerversicherungssozietät war es ein gutes Stück Weg, in anderthalb Stunden schwerlich zu schaffen.

Fandorin begriff mit einem flauen Gefühl in der Magengrube, daß es eigentlich nur einen Ausweg gab: Er mußte sich den Krämer Kukin schnappen und mit ihm ins Revier an der Mochowaja, in dessen Keller der Leichnam des Selbstmörders immer noch auf Eis lag, um eine Identifizierung vorzunehmen. Bei der Vorstellung des aufgerissenen Schädels mit einer Kruste aus Blut und Hirn wanderten Fan- dorins Gedanken auf natürlichem Wege zur erdolchten Kaufmannsfrau Krupnowa, die ihn nach wie vor in Alpträumen heimsuchte. Nein, in den »Kühlraum« hinabzusteigen, hatte er entschieden keine Lust. Doch zwischen dem Studenten auf der Jausa-Brücke und dem Selbstmörder aus dem Alexandergarten bestand eine Verbindung, der man nachgehen mußte, soviel war klar. Wer also konnte Auskunft geben, ob Kokorin pickelig und krumm gewesen war und ob er einen Zwicker getragen hatte?