Erstens die Gutsfrau Spizyna. Aber die rollte gewiß schon auf das Stadttor von Kaluga zu. Zweitens der Kammerdiener des Toten, wie hieß der noch mal? Egal, der Ermittlungsbeamte hatte ihn aus der Wohnung geschmissen, damit war er unauffindbar. Blieben die Zeugen aus dem Alexandergarten und insbesondere die beiden Damen, mit denen Kokorin in der letzten Minute seines Lebens konversiert hatte - die sahen ihn bestimmt noch in allen Einzelheiten vor sich. Da standen sie in seinem Büchlein: Jelisaweta Alexandrowna von Ewert-Kolokolzewa (17), Vater Wirkl. Geh. Rat; Fräulein Emma Gottliebowna Pfuhl (48), Malaja Nikitskaja, im Hause derselben.
Nun mußte er doch eine Droschke mieten.
Der Tag neigte sich nur zögernd. Die lachende Maisonne wurde nicht müde, die goldenen Kuppeln der Stadt zum Strahlen zu bringen, unwillig rutschte sie auf die Linie der Dächer zu, als Fandorin, um zwei Heller ärmer, vor einer stattlichen Villa mit dorischen Säulen, Stuck an der Fassade und marmornem Portal aus der Droschke stieg. Der Kutscher sah, daß sein Fahrgast zögerte, und ermunterte ihn: »Das ist es, das Generalshaus, da können Sie sicher sein. Ich kutschiere schon ein paar Jährchen durch Moskau, müssen Sie wissen.«
Und wenn Sie mich nun nicht reinlassen? dachte Fando- rin mit Herzklopfen; er fürchtete eine Demütigung. Jetzt griff er nach dem blanken kupfernen Türklopfer, betätigte ihn zweimal. Die massive Tür mit den bronzenen Löwenmäulern ging augenblicklich auf; ein Portier schaute heraus, dessen Livree reichlich mit goldenen Posamenten geschmückt war.
»Zum Herrn Baron? Von Amts wegen?« fragte er beflissen. »Zum Rapport oder in Kurierdiensten? Bitte einzutreten.«
Das geräumige Foyer, von einem Kronleuchter und Gaslampen grell erleuchtet, schüchterte Fandorin noch mehr ein.
»Zu Fräulein Jelisaweta, strenggenommen«, erklärte er. »Erast Petrowitsch Fandorin, von der Kriminalpolizei. In dringender Angelegenheit.«
»Kriminalpolizei?« Die Stirn des Portiers furchte sich mißbilligend. »Etwa wegen des gestrigen Vorfalls? Ausgeschlossen. Das werte Fräulein hat den halben Tag lang geheult und auch die Nacht schlecht geschlafen. Sie kommen hier nicht rein, ich melde Sie gar nicht erst an. Seine Exzellenz haben schon gestern gedroht, den Leuten vom Revier den Kopf abzureißen, weil sie dem werten Fräulein mit Fragen so zugesetzt haben. Da ist die Tür, wenn ich bitten darf!« Das Scheusal war bereits dabei, ihn mit seinem dicken Bauch in Richtung Ausgang zu schieben.
»Und Fräulein Pfuhl?« rief Fandorin in heller Verzweiflung. »Emma Gottliebowna, achtundvierzig? Wenigstens mit ihr müßte ich ein Wörtchen reden! Wichtige Staatsangelegenheit!«
Der Portier schmatzte hochnäsig.
»Zu ihr, das ist was anderes. Von mir aus. Dort vorn, die Treppe runter. Den Gang entlang, dritte Tür rechts. Dort wohnt das Fräulein Gouvernante.«
Auf sein Klopfen öffnete ein großes, knochiges Wesen und schaute den Besucher stumm aus runden braunen Augen an.
»Polizei, Fandorin. Sie sind Fräulein Pfuhl?« fragte Fan- dorin nicht sehr sicher und wiederholte noch einmal auf deutsch:
»Polizeiamt. Sind Sie Fräulein Pfuhl? Guten Abend.«
»Guten Abend«, erwiderte die Dürre schroff. »Emma Pfuhl, jawohl. Gommen Sie rein. Setzen Sie sich dort auf dän Stuhl.«
Fandorin setzte sich, wohin ihm geheißen worden war, nämlich auf einen Wiener Stuhl mit geschwungener Lehne - er stand vor dem Schreibtisch, worauf in akkurater Ordnung ein paar Lehrbücher und Stöße von Schreibpapier lagen. Das Zimmer war hell und schön, aber langweilig eingerichtet, es wirkte wie tot. Drei Töpfe üppig blühender Geranien auf dem Fensterbrett waren der einzige Farbfleck im Raum.
»Sie gommen wohl wägen dieses dummen Jungen, der sich beschossen hat?« fragte Jungfer Pfuhl. »Ich hab schon gestern auf alle Fragen geantwortet vom Herrn Bolizeier, aber wenn sie noch welche haben, fragen Sie. Die Arbeit der Bo- lizei ist sähr wichtig, ich verstehe das. Mein Onkel Günther war Oberwachtmeister bei der sächsischen Bolizei.«
»Ich bin Kollegienregistrator«, präzisierte Fandorin, der nicht wollte, daß man ihn für einen Wachtmeister hielt. »Beamter im vierzehnten Rang.«
»Jaja, die Ränge genne ich auseinander.« Die Deutsche nickte und wies mit dem Daumen auf den Kragenspiegel seines Uniformrocks. »Also, Herr Gollegienregistrator, ich höre.«
In diesem Moment sprang die Tür auf, und das blonde Adelsfräulein mit entzückend geröteten Wangen flog, ohne angeklopft zu haben, herein.
»Fräulein Pfuhl! Morgen fahren wir nach Kunzewo! Ehrenwort! Papa hat’s erlaubt!« tat sie noch von der Schwelle kund. Als sie den Fremden bemerkte, stockte sie und verstummte irritiert; dabei blickten ihre grauen Augen voll brennender Neugier zu dem jungen Amtsmann herüber.
»Wohlerzogene Freifräuleins gähen, sie rennen nicht«, sagte die Gouvernante mit aufgesetzter Strenge. »Besonders die, die schon siebzehn Jahre sind. Wenn Ihr gämt gegangen, nicht gerannt, hättet Ihr genug Zeit, den fremden Gast zu sähen und zu begrüßen, wie es sich gehört.«
»Guten Tag, mein Herr!« wisperte die bezaubernde Erscheinung.
Fandorin war aufgesprungen und verbeugte sich, dabei fühlte er sich miserabel. Das Fräulein gefiel ihm gut - so ausnehmend gut, daß der arme Schriftführer fürchten mußte, sich auf der Stelle, Hals über Kopf in sie zu verlieben, was auf gar keinen Fall geschehen durfte. Selbst in früheren, besseren
Zeiten, als der Vater noch lebte, wäre solch eine Prinzessin keine Partie für ihn gewesen - um wieviel weniger jetzt.
»Guten Tag!« sagte er betont trocken, runzelte finster die Brauen und fügte im stillen an: Welche traurige Figur soll ich hier abgeben? Er war leider nur Titularrat / Und sie Generals liebstes Kind? Nein, meine Dame, da wird nichts draus. Bis zum Titularrat gehen sowieso noch allerhand Jahre ins Land.
»Kollegienregistrator Fandorin, Erast Petrowitsch, Kriminalhauptamt«, stellte er sich in förmlichem Ton vor. »Ich ermittele bezüglich des gestrigen, bedauerlichen Vorfalls im Alexandergarten. Es macht sich erforderlich, noch einige Einzelheiten zu klären. Doch wenn es Ihnen unangenehm ist - ich kann sehr gut verstehen, daß die Sache Sie mitgenommen hat -, so kann ich das Nötige auch mit Fräulein Pfuhl allein besprechen.«
»Ja, es war schrecklich.« Die Augen des Fräuleins, ohnehin groß, weiteten sich noch mehr. »Zwar hab ich extra die Augen zugekniffen und fast nichts gesehen, außerdem verlor ich dann die Besinnung . Aber ich finde das alles furchtbar spannend. Fräulein Pfuhl, darf ich vielleicht dabeibleiben? Ach, bitte! Ich bin ja schließlich genauso Zeugin wie Sie!«
»Ich für mein Teil fände es im Interesse der Ermittlungen auch besser, wenn das Freifräulein anwesend sein könnte«, ergab sich Fandorin der Versuchung.
»Ordnung muß sein.« Emma Gottliebowna nickte. »Ihr wißt, das ist eine deutsche Redensart, die hab ich Euch oft genug ans Herz gelägt. Man muß das Gesetz achten. Ihr dürft bleiben.«
Lisanka (Fandorin, der zielstrebig die Kontrolle über sich verlor, war bereits soweit, das Fräulein insgeheim so zu nennen) ließ sich erwartungsvoll auf dem ledernen Diwan nieder und schaute unseren Helden unverwandt an.
Der riß sich zusammen und begann, an Fräulein Pfuhl gewandt, die Befragung:
»Wenn Sie mir vielleicht bitte das Äußere jenes Herrn beschreiben würden?«
»Der sich geschossen hat?« fragte sie zurück. »Na ja. Braune Augen, braune Haare, gewachsen ziemlich groß, ohne Bart, auch ohne Goteletten, sähr junges Gesicht, allerdings kein sähr gutes. Und die Gleidung ...«
»Zur Kleidung kommen wir noch«, unterbrach sie Fan- dorin. »Sie sagen, kein sehr gutes Gesicht. Wieso? Hatte er Pickel?«
Lisanka mußte das Wort übersetzen und errötete dabei.