»Und die 5.?« sagte Neil und richtete seine Blicke auf den englischen Priester, der langsam auf dem Gartenpfad herankam.
»Ist wohl nur eine Belanglosigkeit«, sagte der Doktor, »aber mir erscheint sie doch sonderbar. Als ich zuerst sah, wie der Kopf abgehauen war, nahm ich an, der Mörder hätte mehr als einmal zugeschlagen. Aber bei näherer Untersuchung fand ich eine ganze Reihe von Schnitten, die quer über der durchtrennten Stelle lagen; mit anderen Worten, sie waren zugefügt worden, nachdem der Kopf ab war. Haßte Brayne seinen Feind so satanisch, daß er im Mondschein mit dem Säbel auf die Leiche einhackte?«
»Scheußlich!« sagte O’Brien und schauderte.
Der kleine Priester, Brown, war herangekommen, während sie sprachen, und hatte mit charakteristischer Schüchternheit gewartet, bis sie fertig waren. Dann sagte er unbeholfen:
»Tut mit leid, Sie zu unterbrechen. Aber man hat mich hergeschickt, um Ihnen das Neueste mitzuteilen.«
»Das Neueste?« wiederholte Simon und starrte ihn etwas gequält durch seine Brillengläser an.
»Ja, tut mir leid«, sagte Father Brown sanft. »Wissen Sie, es hat noch einen anderen Mord gegeben.« Die beiden Männer sprangen von ihrem Sitz auf, der leise nachschaukelte.
»Und was noch eigenartiger ist«, fuhr der Priester fort, den glanzlosen Blick auf die Rhododendren gerichtet, »auf dieselbe gräßliche Weise; es ist wieder eine Enthauptung. Sie haben den zweiten Kopf noch blutend im Fluß gefunden, nur wenige Meter von Braynes Weg nach Paris entfernt; deshalb nehmen sie an, daß er…«
»Großer Gott!« schrie O’Brien. »Ist Brayne denn ein Besessener?«
»Es gibt amerikanische Blutrachen«, sagte der Priester ungerührt. Und fügte hinzu: »Man wünscht, daß Sie in die Bibliothek kommen und ihn sich ansehen.«
Major O’Brien folgte den anderen zur Leichenschau; ihm war ausgesprochen übel. Als Soldat verabscheute er all diese heimliche Abschlachterei; wo würden diese zügellosen Amputationen enden? Zuerst wurde ein Kopf abgehackt, und dann ein anderer; in diesem Fall (sagte er bitter zu sich selbst) traf es nicht zu, daß zwei Köpfe besser seien als einer. Als er das Arbeitszimmer durchquerte, ließ ihn ein schrecklicher Zufall fast zurücktaumeln. Auf Valentins Tisch lag das farbige Bildnis eines dritten blutigen Kopfes; und das war der Kopf von Valentin selbst. Ein zweiter Blick ließ ihn erkennen, daß es sich lediglich um eine nationalistische Zeitschrift handelte, ›La Guillotine‹, die jede Woche einen ihrer politischen Gegner mit rollenden Augen und verzerrten Zügen unmittelbar nach seiner Exekution zeigte; und Valentin war ein Antiklerikaler von einiger Bedeutung. Aber O’Brien war ein Ire und selbst in seinen Sünden von einer gewissen Keuschheit; deshalb drehte sich ihm der Magen um angesichts dieser ungeheuren Brutalität des Intellekts, die ausschließlich Frankreich zueigen ist. Er empfand Paris als ein Ganzes, von den grotesken Figuren an den gotischen Kirchen bis zu den groben Karikaturen in den Zeitungen. Er erinnerte sich an die ungeheuren Witze der Revolution. Er sah die ganze Stadt als eine einzige häßliche Kraft, von der blutrünstigen Zeichnung auf Valentins Tisch bis dort hinauf, wo über Gebirgen und Wäldern von Wasserspeiern der große Teufel auf Notre Dame herabgrinst.
Die Bibliothek war lang, niedrig und dunkel; was an Licht hereinkam, drängte sich unter den herabgelassenen Jalousien durch und hatte noch etwas von der rötlichen Färbung des Morgens. Valentin und sein Diener Iwan erwarteten sie am oberen Ende eines langen, leicht schrägstehenden Tisches, auf dem die sterblichen Überreste lagen, die im Zwielicht riesig aussahen. Die mächtige schwarze Gestalt und das gelbe Gesicht des Mannes, den man im Garten gefunden hatte, begegneten ihnen im wesentlichen unverändert. Der zweite Kopf, den man am gleichen Morgen aus dem Flußschilf gefischt hatte, lag triefend und tropfend daneben; Valentins Männer suchten immer noch nach dem Rest dieses zweiten Leichnams, von dem man annahm, daß er abgetrieben worden sei. Father Brown, der O’Briens Empfindlichkeit in keiner Weise zu teilen schien, trat an den zweiten Kopf heran und untersuchte ihn mit blinzelnder Sorgfalt. Es war kaum mehr als ein Büschel nassen, weißen Haares, im roten waagrechten Licht des Morgens von silbernem Feuer umrahmt; das Gesicht erschien von häßlichem, purpurnem und vielleicht verbrecherischem Typus und war offensichtlich heftig gegen Bäume oder Steine geschlagen, als es im Wasser herumschleuderte.
»Guten Morgen, Major O’Brien«, sagte Valentin mit ruhiger Herzlichkeit. »Ich nehme an, daß Sie schon von Braynes jüngstem Abschlacht-Experiment gehört haben?«
Father Brown stand immer noch über den Kopf mit dem weißen Haar gebeugt und sagte, ohne aufzuschauen:
»Ich nehme an, es ist völlig sicher, daß Brayne auch diesen Kopf abgeschnitten hat.«
»Na ja, das scheint logisch genug«, sagte Valentin, die Hände in den Taschen. »Auf die gleiche Weise getötet wie der andere. Aufgefunden wenige Meter vom anderen entfernt. Und abgeschnitten mit derselben Waffe, die er, wie wir wissen, mitgenommen hatte.«
»Ja, ja; ich weiß«, erwiderte Father Brown nachgiebig. »Dennoch bezweifle ich, wissen Sie, daß Brayne diesen Kopf hätte abschneiden können.«
»Warum denn nicht?« fragte Dr. Simon mit forschendem Blick.
»Nun, Doktor«, sagte der Priester und blickte blinzelnd auf, »kann ein Mann sich selbst den Kopf abschneiden? Ich weiß nicht.«
O’Brien spürte ein irrsinniges Universum um seine Ohren zusammenbrechen; der Doktor aber sprang mit praktischem Ungestüm herbei und schob die nassen weißen Haare zurück.
»Oh, da gibt es keinen Zweifel, das ist Brayne«, sagte der Priester ruhig. »Er hatte genau diese Einkerbung im linken Ohr.«
Der Detektiv, der den Priester mit steten und glitzernden Augen angesehen hatte, öffnete seinen zusammengepreßten Mund und sagte scharf: »Sie scheinen viel von ihm zu wissen, Father Brown.«
»So ist es«, sagte der kleine Mann einfach. »Ich kam seit einigen Wochen mit ihm zusammen. Er dachte daran, sich unserer Kirche anzuschließen.«
Das Glühen des Fanatismus schoß Valentin in die Augen; er schritt mit geballten Händen auf den Priester zu. »Und vielleicht«, schrie er mit schneidendem Hohn, »vielleicht dachte er auch daran, Ihrer Kirche all sein Geld zu vermachen.«
»Vielleicht«, sagte Brown gleichgültig; »möglich ist das.«
»In diesem Fall«, rief Valentin mit furchtbarem Lächeln, »dürften Sie wirklich eine Menge über ihn wissen. Über sein Leben und über sein…«
Major O’Brien legte eine Hand auf Valentins Arm. »Machen Sie Schluß mit diesem verleumderischen Quatsch, Valentin«, sagte er, »oder es könnte noch mehr Säbel geben.«
Aber Valentin hatte sich (unter dem steten bescheidenen Blick des Priesters) bereits wieder gefaßt. »Gut«, sagte er knapp, »persönliche Meinungen können warten. Sie, meine Herren, sind immer noch durch Ihr Versprechen gebunden, zu bleiben; Sie müssen sich selbst – und jeder den anderen dazu zwingen. Iwan wird Ihnen alles Weitere sagen, was Sie wissen wollen; ich muß mich an die Arbeit machen und den Behörden schreiben. Wir können das nicht länger geheimhalten. Ich schreibe in meinem Arbeitszimmer, für den Fall, daß es weitere Neuigkeiten gibt.«
»Gibt es weitere Neuigkeiten, Iwan?« fragte Dr. Simon, während der Chef der Polizei aus dem Raume schritt.
»Nur noch eine Sache, glaube ich, Sir«, sagte Iwan und legte sein graues altes Gesicht in Falten; »aber sie ist auf ihre Weise auch wichtig. Es handelt sich um den alten Knaben, den Sie auf dem Rasen gefunden haben«, und er wies ohne jede vorgespielte Ehrerbietung auf den großen schwarzen Körper mit dem gelben Kopf. »Wir haben rausgefunden, wer das ist.«