»Der Mörder«, fuhr Brown ruhig fort, »hackte seinem Feind den Kopf ab und schleuderte den Säbel weit über die Mauer. Aber er war zu klug, um das Schwert allein fortzuschleudern. Er schleuderte den Kopf ebenfalls über die Mauer. Danach brauchte er nur noch einen anderen Kopf an den Leichnam zu fügen, und da er auf einer privaten Untersuchung bestand, bildeten Sie sich alle einen vollständig neuen Mann ein.«
»Einen anderen Kopf anfügen!« sagte O’Brien starrend. »Welchen anderen Kopf? Köpfe wachsen doch nicht an Gartensträuchern, oder?«
»Nein«, sagte Father Brown rauh und sah auf seine Stiefel; »es gibt nur einen Platz, an dem sie wachsen. Sie wachsen im Korb der Guillotine, neben der der Chef der Polizei, Aristide Valentin, kaum eine Stunde vor dem Mord noch gestanden hatte. O meine Freunde, hört mir noch eine Minute länger zu, ehe Ihr mich in Stücke reißt. Valentin ist ein redlicher Mann, wenn Verrücktsein für eine diskutable Sache Redlichkeit ist. Habt Ihr nie in seinen kalten grauen Augen gesehen, daß er verrückt ist? Er würde alles tun, alles, um das zu brechen, was er den Aberglauben des Kreuzes nennt. Dafür hat er gekämpft, und dafür hat er gehungert, und jetzt hat er dafür gemordet. Braynes verrückte Millionen wurden bisher unter so vielen Sekten ausgestreut, daß dadurch das Gleichgewicht der Dinge nicht sehr gestört wurde. Dann aber hörte Valentin Gerüchte, daß Brayne wie manch anderer verwirrter Skeptiker auf uns zutreibe; und das war eine ganz andere Sache. Brayne würde der verarmten aber kämpferischen Kirche Frankreichs Nachschub bringen; er würde sechs nationalistische Zeitungen wie La Guillotine unterstützen. Der Kampf stand auf des Messers Schneide, und der Fanatiker fing Feuer an der Gefahr. Er beschloß, den Millionär zu vernichten, und das tat er so, wie man es vom größten Detektiv bei der Begehung seines einzigen Verbrechens erwarten kann. Er entfernte den abgetrennten Kopf Beckers mit irgendeiner kriminologischen Begründung und nahm ihn in seinem Aktenkoffer mit nach Hause. Er hatte jene letzte Auseinandersetzung mit Brayne, die Lord Galloway nicht bis zum Ende anhörte; da sie fehlschlug, führte er ihn hinaus in den versiegelten Garten, sprach über die Fechtkunst, verwendete zur Illustration Zweige und einen Säbel, und…«
Iwan mit der Narbe sprang auf. »Sie Wahnsinniger«, schrie er; »Sie werden in diesem Augenblick zu meinem Herrn gehen, und wenn ich Sie mit Gewalt…«
»Ja gut, da wollte ich jetzt sowieso hingehen«, sagte Brown schwer; »ich muß ihn doch auffordern zu beichten, und all das.«
Sie trieben den unglücklichen Brown vor sich her wie eine Geisel oder ein Opferlamm und stürmten gemeinsam in die jähe Stille von Valentins Arbeitszimmer.
Der große Detektiv saß an seinem Tisch, offenbar zu beschäftigt, um ihren lärmenden Eintritt zu hören. Sie hielten einen Moment inne, und dann ließ irgend etwas im Anblick jenes aufrechten und eleganten Rückens den Doktor plötzlich vorwärts stürzen. Eine Berührung und ein Blick zeigten ihm ein kleines Pillendöschen an Valentins Ellbogen und daß Valentin tot in seinem Stuhl saß; und auf dem erloschenen Gesicht des Selbstmörders stand mehr als nur Catos Stolz.
Die sonderbaren Schritte
Sollten Sie je einem Mitglied jenes auserlesenen Clubs »Die zwölf wahren Fischer« begegnen, wie er aus Anlaß des jährlichen Club-Essens das Vernon-Hotel betritt, so werden Sie, sobald er seinen Mantel ablegt, sehen, daß sein Abendanzug grün und nicht schwarz ist. Wenn Sie (vorausgesetzt, Sie besäßen die sterneerschütternde Kühnheit, ein solches Wesen anzusprechen) ihn fragten warum, würde er vermutlich antworten, er tue es, um nicht mit einem Kellner verwechselt zu werden. Woraufhin Sie sich zerschmettert zurückzögen. Hinter sich aber würden Sie ein bisher ungelöstes Rätsel und eine erzählenswerte Geschichte zurücklassen.
Träfen Sie nun (um den gleichen Faden unwahrscheinlicher Vermutungen fortzuspinnen) einen sanftmütigen, hart arbeitenden kleinen Priester namens Father Brown, und fragten Sie ihn, was er für den einzigartigsten Glücksfall seines Lebens ansehe, würde er vermutlich antworten, daß aufs Ganze gesehen sein bester Streich jener im Vernon-Hotel gewesen sei, wo er ein Verbrechen verhinderte und vielleicht eine Seele rettete, einfach indem er auf ein paar Schritte in einem Gang lauschte. Er ist dann vielleicht ein bißchen stolz auf diese seine wilde und wunderbare Mutmaßung, und es ist möglich, daß er sie sogar erwähnt. Aber da es unendlich unwahrscheinlich ist, daß Sie in der Welt der Gesellschaft je so weit aufsteigen, »Die zwölf wahren Fischer« zu finden, oder daß Sie je tief genug zwischen Slums und Verbrechern absinken, Father Brown zu finden, fürchte ich, daß Sie diese Geschichte niemals erfahren werden, es sei denn, Sie erfahren sie von mir.
Das Vernon-Hotel, in dem »Die zwölf wahren Fischer« ihr Jahresessen abhielten, war eine jener Einrichtungen, wie sie nur in einer oligarchischen Gesellschaft bestehen können, die fast verrückt nach guten Manieren ist. Es war jene paradoxe Hervorbringung – ein »exklusives« kaufmännisches Unternehmen. Mit anderen Worten: Es machte Gewinn, nicht indem es Menschen anzog, sondern indem es Menschen abwies. Im Herzen einer Plutokratie werden Händler bald gerissen genug, noch wählerischer als ihre Kundschaft zu sein. Sie schaffen regelrecht Schwierigkeiten, damit ihre geldhabenden und gelangweilten Kunden Geld und Geschick aufwenden müssen, um sie zu überwinden. Wenn es in London ein Hotel gäbe, das gerade berühmt ist und das niemand betreten dürfte, der nicht mindestens 6 Fuß mißt, würde die Gesellschaft demütig Gesellschaften für 6-Fuß-Menschen geben, die in ihm speisen sollten. Wenn es ein kostspieliges Restaurant gäbe, das aufgrund einer Laune seines Besitzers nur donnerstagnachmittags geöffnet wäre, wäre es donnerstagnachmittags brechend voll. Das Vernon-Hotel stand wie zufällig in einer Ecke an einem Platz in Belgravia. Es war ein kleines Hotel; und ein sehr unbequemes. Doch wurden gerade seine Unbequemlichkeiten geschätzt als Mauern, die eine besondere Gesellschaftsschicht schützten. Eine Unbequemlichkeit insbesondere wurde für lebenswichtig erachtet: die Tatsache, daß praktisch nur 24 Menschen gleichzeitig dort speisen konnten. Der einzige große Speisetisch war der berühmte Terrassentisch, der im Freien auf einer Art Veranda stand mit Blick auf einen der herrlichsten alten Gärten Londons. Daher denn selbst jene 24 Plätze an diesem Tisch nur bei warmem Wetter genossen werden konnten; und da dies den Genuß noch erschwerte, machte es ihn um so begehrenswerter. Der gegenwärtige Besitzer des Hotels war ein Jude namens Lever; und er holte fast eine Million heraus, indem er es schwer machte, hineinzukommen. Natürlich verband er diese äußerliche Beschränktheit seines Unternehmens mit der sorgfältigsten Vollendung seiner Leistung. Weine und Küche waren wahrhaftig so gut wie nur irgends in Europa, und das Benehmen der Dienerschaft spiegelte aufs genaueste die stete Stimmung der englischen Oberklasse wider. Der Besitzer kannte alle seine Kellner wie die Finger seiner Hand; insgesamt gab es ihrer nur 15. Es war sehr viel leichter, Parlamentsabgeordneter zu werden als Kellner in jenem Hotel. Jeder Kellner war in erschrecklicher Leisigkeit und Zuvorkommenheit geschult, als sei er der Kammerdiener eines Gentleman. Und es gab auch in der Tat mindestens einen Kellner für jeden speisenden Gentleman.
Der Club der »zwölf wahren Fischer« würde sich niemals dazu herabgelassen haben, anderswo als an einem solchen Orte zu speisen, denn er bestand auf luxuriöser Abgeschlossenheit und wäre höchst ungehalten gewesen bei dem bloßen Gedanken daran, daß irgendein anderer Club auch nur im gleichen Gebäude speise. Aus Anlaß ihres jährlichen Essens pflegten die Fischer all ihre Schätze auszubreiten, als befänden sie sich in einem Privathaus, vor allem aber ihr berühmtes Besteck aus Fischgabeln und Fischmessern, den wahren Insignien ihrer Gesellschaft, jedes Stück eine auserlesene Silberschmiedearbeit in Fischform, und jedes am Griff mit einer großen Perle geschmückt. Sie wurden immer für den Fischgang aufgelegt, und der Fischgang war immer der großartigste jenes großartigen Mahles. Die Gesellschaft verfügte über eine gewaltige Anzahl von Zeremonien und Gebräuchen, aber sie hatte keine Geschichte und keinen Zweck; und darin war sie eben so besonders aristokratisch. Man brauchte nichts zu sein, um einer der Zwölf Fischer zu sein; denn wenn man nicht bereits eine bestimmte Art Person war, hörte man niemals von ihnen. Sie bestand seit zwölf Jahren. Ihr Präsident war Mr. Audley. Ihr Vizepräsident war der Herzog von Chester.