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Doch als er systematisch nachzudenken begann, schien die Dunkelheit seiner Zelle selbst seine Gedanken lebendiger zu machen; er begann wie in einer Art von Vision die phantastischen Füße den Gang entlang tanzen zu sehen in unnatürlichen oder symbolischen Posen. War das ein heidnischer religiöser Tanz? Oder eine vollkommen neue Art wissenschaftlicher Übungen? Father Brown begann, sich genauer zu fragen, was die Schritte andeuteten. Zunächst der langsame Schritt: Mit Sicherheit war das nicht der Schritt des Besitzers. Männer dieses Typs gehen in einem schnellen Watscheln, oder sie sitzen still. Es konnte auch nicht ein Diener oder Bote sein, der auf Anweisungen wartete. Danach klang es nicht. Die niederen Klassen (in einer Oligarchie) stolpern zwar manchmal umher, wenn sie leicht angetrunken sind, aber im allgemeinen, und besonders in solch prachtvoller Umgebung, stehen oder sitzen sie in gezwungener Haltung. Nein; jener schwere und zugleich federnde Schritt, von einer Art unbekümmerter Gewichtigkeit, nicht besonders laut, doch unbesorgt darum, welches Geräusch er verursache, konnte nur zu einem Lebewesen auf Erden gehören. Das war ein Gentleman aus dem westlichen Europa, und vermutlich einer, der nie für seinen Lebensunterhalt gearbeitet hatte.

Gerade als er diese sichere Gewißheit gewonnen hatte, wandelte sich der Schritt in den schnelleren und rannte so hastig an der Tür vorbei wie eine Ratte. Der Lauscher bemerkte, daß dieser Schritt, obwohl viel schneller, zugleich auch viel leiser war, so als laufe ein Mann auf Zehenspitzen. Doch verband sich das in seinem Geiste nicht mit Heimlichkeit, sondern mit etwas anderem – etwas, dessen er sich nicht erinnern konnte. Es quälte ihn eine jener Halberinnerungen, die einen Mann sich halb blöd fühlen lassen. Mit Sicherheit hatte er jenes sonderbare schnelle Gehen schon irgendwo gehört. Plötzlich sprang er mit einem neuen Einfall im Kopf auf die Füße und ging zur Tür. Sein Zimmer hatte keinen direkten Zugang zum Gang, führte aber auf der einen Seite in das gläserne Büro und auf der anderen Seite in die darunterliegende Garderobe. Er versuchte die Tür zum Büro und fand sie verschlossen. Dann blickte er zum Fenster, jetzt eine viereckige Scheibe voller purpurner Wolken, die ein fahler Sonnenuntergang zerteilte, und für einen Augenblick witterte er Böses, wie ein Hund Ratten wittert.

Der vernünftige Teil seines Wesens (ob das nun auch der weisere war oder nicht) gewann wieder die Oberhand. Er erinnerte sich daran, daß ihm der Besitzer gesagt hatte, er wolle die Tür abschließen und später wiederkommen, ihn herauszulassen. Er sagte sich, daß 20 verschiedene Ursachen, an die er nicht gedacht hatte, die außergewöhnlichen Geräusche draußen erklären könnten; er gemahnte sich daran, daß es gerade noch ausreichend Licht gebe, seine eigene Arbeit zu beenden. Er trug sein Papier zum Fenster, um das letzte Licht des stürmischen Abends einzufangen, und stürzte sich noch einmal in den fast beendeten Bericht. Während etwa 20 Minuten hatte er geschrieben, indem er sich im verdämmernden Licht tiefer und tiefer auf sein Papier beugte; da plötzlich setzte er sich aufrecht hin. Er hatte erneut die sonderbaren Füße gehört.

Dieses Mal wiesen sie eine dritte Eigenart auf. Zuvor war der unbekannte Mann gelaufen, sehr leicht zwar und mit Blitzesschnelle, aber er war gelaufen. Dieses Mal rannte er. Man konnte die schnellen, weichen, springenden Schritte den Korridor entlang kommen hören wie die Tatzen eines flüchtenden und springenden Panters. Wer immer da kam, es war ein sehr kraftvoller tatkräftiger Mann, in stummer aber heftiger Erregung. Doch als das Geräusch wie ein flüsternder Wirbelwind bis an das Büro herangefegt war, wechselte es plötzlich wieder in das alte langsame schlendernde Stapfen.

Father Brown warf seine Papiere hin und ging, da er die Bürotür geschlossen wußte, auf der anderen Seite in die Garderobe. Der Wärter dieses Ortes war zeitweilig abwesend, wohl weil die einzigen Gäste beim Dinner saßen und sein Amt eine Pfründe war. Nachdem er sich durch einen grauen Wald von Mänteln getastet hatte, stellte er fest, daß sich die dunkle Garderobe zum erleuchteten Korridor hin wie ein Ladentisch oder eine Art Halbtür öffnete wie die meisten solcher Theken, über die wir alle schon Schirme gereicht und Marken in Empfang genommen haben. Unmittelbar über dem Schwibbogen dieser Öffnung hing eine Lampe. Sie beleuchtete Father Brown kaum, der wie ein dunkler Umriß vor dem matten Sonenuntergangsfenster hinter ihm erschien. Aber sie warf ein fast theatralisches Licht auf den Mann, der vor der Garderobe im Korridor stand.

Es war ein sehr eleganter Mann in einfachem Abendanzug; großgewachsen, aber er wirkte, als nehme er nicht viel Raum ein; man spürte, daß er wie ein Schatten dort hätte vorübergleiten können, wo sehr viel kleinere Männer auffällig und störend gewirkt hätten. Sein Gesicht, jetzt im Lampenschein zurückgeworfen, war dunkel und lebhaft, das Gesicht eines Ausländers. Seine Erscheinung war gut, seine Manieren waren gut gelaunt und selbstbewußt; ein Kritiker hätte lediglich feststellen können, daß sein schwarzer Frack nicht ganz zu seiner Erscheinung und seinen Manieren paßte, ja sogar auf sonderbare Weise geschwollen und gebauscht erschien. In dem Augenblick, da er Browns schwarze Silhouette vor dem Sonnenuntergang erblickte, warf er ein Stück Papier mit einer Nummer darauf hin und rief mit leutseliger Autorität: »Ich möchte meinen Hut und meinen Mantel bitte; ich muß sofort gehen.«

Father Brown nahm wortlos das Papier und ging gehorsam den Mantel suchen; es war nicht die erste niedere Arbeit, die er in seinem Leben verrichtete. Er brachte ihn herbei und legte ihn auf die Theke; inzwischen sagte der fremde Herr, der in seiner Westentasche herumgesucht hatte, lachend: »Ich hab kein Silber bei mir; behalten Sie das«, und er warf einen halben Sovereign hin und nahm seinen Mantel auf.

Father Browns Gestalt blieb ganz dunkel und ruhig; aber in diesem Augenblick hatte er seinen Kopf verloren. Sein Kopf war immer dann am wertvollsten, wenn er ihn verloren hatte. In solchen Augenblicken zählte er zwei und zwei zusammen und machte vier Millionen daraus. Oftmals billigte die katholische Kirche (die mit der Alltagsvernunft verheiratet ist) das nicht. Oftmals billigte er selbst das nicht. Aber es war eine wirkliche Eingebung – wichtig in seltenen Krisen –, daß wer da seinen Kopf verliert, ihn retten wird.

»Ich glaube, Sir«, sagte er höflich, »daß Sie einiges Silber in Ihren Taschen haben.«

Der hochgewachsene Gentleman starrte ihn an. »Zum Teufel«, schrie er, »ich habe Ihnen doch Gold gegeben, was beklagen Sie sich denn?«

»Weil Silber manchmal wertvoller ist als Gold«, sagte der Priester sanftmütig; »vor allem in großen Mengen.«

Der Fremde sah ihn neugierig an. Danach sah er noch neugieriger den Gang hinab zum Haupteingang hin. Dann sah er wieder Brown an, und dann sah er sehr sorgfältig nach dem Fenster hinter Browns Haupt, das immer noch vom Nachglühen des Gewitters gefärbt war. Dann schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. Er stützte eine Hand auf die Theke, schwang sich leicht wie ein Akrobat hinüber und stand dann dräuend über dem Priester, den er mit mächtiger Hand beim Kragen packte.

»Stehen Sie still«, sagte er in einem abgehackten Flüstern. »Ich will Ihnen nicht drohen, aber…«

»Ich will Ihnen drohen«, sagte Father Brown mit einer Stimme wie eine dröhnende Trommel. »Ich will Ihnen drohen mit dem Wurm, der niemals stirbt, und mit dem Feuer, das nie gelöscht wird.«

»Sie sind eine sonderbare Art von Garderobier«, sagte der andere.

»Ich bin Priester, Monsieur Flambeau«, sagte Brown, »und ich bin bereit, Ihre Beichte zu hören.«

Der andere stand einige Augenblicke da, nach Luft schnappend, dann taumelte er rückwärts auf einen Stuhl.

Die beiden ersten Gänge des Dinners der »zwölf wahren Fischer« waren mit ruhigem Erfolg verlaufen. Ich besitze keine Abschrift der Speisekarte; und wenn ich eine besäße, würde ich niemandem davon etwas mitteilen. Sie war in jener Sorte Über-Französisch verfaßt, das Köche gebrauchen und Franzosen nicht verstehen. Es gab eine Tradition im Club, daß die hors d’œuvres unterschiedlich und vielfältig zu sein hatten bis zum Exzeß. Sie wurden höchst ernsthaft verspeist, da sie zugegebenermaßen überflüssige Zugaben darstellten wie das ganze Essen und der ganze Club. Es gab auch eine Tradition, daß die Suppe leicht und anspruchslos zu sein hatte – eine Art einfachen und strengen Fastens vor dem Fest des Fisches, das bevorstand. Das Gespräch war jenes sonderbare seichte Gerede, das das British Empire regiert, das es im Geheimen regiert und das doch einen gewöhnlichen Engländer kaum erleuchten würde, selbst wenn er ihm zuhören könnte. Kabinettsminister beider Parteien erwähnte man in einer Art gelangweilten Wohlwollens mit ihren Vornamen. Der radikale Schatzkanzler, den die ganze Partei der Tories angeblich wegen seiner Erpressungen verflucht, wurde wegen seiner unbedeutenden Gedichte oder wegen seines guten Sitzes im Sattel während der Jagd gelobt. Der Tory-Führer, den alle Liberalen angeblich als Tyrannen hassen, wurde durchgehechelt und im großen ganzen gelobt – als Liberaler. Irgendwie schien es, als seien Politiker sehr wichtig. Jedoch schien alles andere wichtig zu sein an ihnen, außer ihrer Politik. Mr. Audley, der Präsident, war ein liebenswürdiger älterer Herr, der immer noch Gladstone-Kragen trug; er war eine Art Symbol jener gauklerischen und doch so starren Gesellschaft. Er hatte niemals irgend etwas getan – nicht einmal etwas Falsches. Er war nicht leichtlebig; er war nicht einmal besonders reich. Er gehörte einfach dazu; und das war alles. Keine Partei konnte ihn übersehen, und hätte er ins Kabinett gewollt, würde man ihn sicherlich aufgenommen haben. Der Herzog von Chester, der Vizepräsident, war ein junger aufsteigender Politiker. Das heißt, er war ein gefälliger Jüngling mit glattem blondem Haar und einem sommersprossigen Gesicht, mit mäßiger Intelligenz und ungeheuren Ländereien. In der Öffentlichkeit waren seine Auftritte immer erfolgreich, und zwar auf die einfachste Weise. Wann immer ihm ein Witz einfiel, machte er ihn, und wurde brillant genannt. Wann immer ihm kein Witz einfiel, sagte er, jetzt sei nicht die Zeit zu scherzen, und wurde fähig genannt. Im Privaten, in einem Club seiner Klasse, war er einfach recht angenehm offen und albern wie ein Schuljunge. Mr. Audley, der sich nie mit Politik beschäftigt hatte, behandelte sie etwas ernsthafter. Manchmal verwirrte er die Gesellschaft sogar mit Sätzen, die andeuteten, daß es zwischen Liberalen und Konservativen gewisse Unterschiede gebe. Er selbst war ein Konservativer, sogar im Privatleben. Ihm hing eine graue Haartolle rücklings über seinen Kragen wie gewissen älteren Staatsmännern, und von hinten sah er aus wie der Mann, den das Empire braucht. Von vorne sah er aus wie ein sanfter, selbstgefälliger Junggeselle mit einer Wohnung im Hotel Albany – was er war.