»Ich weiß, was du willst. Nimm’s dir und laß mich in Frieden. Ich schreibe gerade ein Gedicht über Pfauen.«
Bevor die Tür sich schloß, flog ein halber Sovereign durch die Öffnung; und Atkinson, der vorwärts stolperte, schnappte ihn mit einzigartiger Geschicklichkeit.
»Das ist also erledigt«, sagte der Doktor, schloß grimmig die Tür ab und führte die anderen hinaus in den Garten.
»Der arme Leonard kann jetzt ein bißchen Ruhe finden«, sagte er zu Father Brown; »jetzt ist er mit sich allein für eine oder zwei Stunden eingeschlossen.«
»Ja«, sagte der Priester; »und seine Stimme klang heiter genug, als wir ihn verließen.« Dann sah er sich nachdenklich im Garten um, sah die liederliche Gestalt von Atkinson dastehen und mit dem halben Sovereign in seiner Tasche klimpern, und dahinter im purpurnen Zwielicht die Gestalt des Inders, der auf einer Grasbank steil aufgerichtet saß, sein Gesicht der sinkenden Sonne zugewandt. Da sagte er abrupt: »Wo ist Frau Quinton?«
»Sie ist hinauf in ihr Zimmer gegangen«, sagte der Doktor. »Das ist ihr Schatten auf der Jalousie.«
Father Brown blickte auf und betrachtete stirnrunzelnd einen dunklen Umriß an dem von Gaslicht erleuchteten Fenster.
»Ja«, sagte er, »das ist ihr Schatten«, und er ging ein oder zwei Schritte weiter und warf sich in einen Gartenstuhl.
Flambeau setzte sich neben ihn; aber der Doktor war eine jener energischen Personen, die ganz natürlich auf ihren Beinen leben. Er wanderte rauchend in die Dämmerung hinein, und die beiden Freunde blieben zusammen zurück.
»Mon Père«, fragte Flambeau, »was ist los mit Ihnen?«
Father Brown schwieg bewegungslos eine halbe Minute, dann sagte er: »Aberglaube ist unreligiös, aber hier liegt irgend etwas in der Luft. Ich glaube, das hat mit dem Inder zu tun – wenigstens teilweise.«
Er versank in Schweigen und beobachtete den fernen Umriß des Inders, der immer noch starr dasaß, wie im Gebet. Zuerst erschien er bewegungslos, aber als Father Brown ihn beobachtete, sah er, daß der Mann sich in einer rhythmischen Bewegung ganz leise hin und her wiegte, ebenso wie die dunklen Baumkronen sich ganz leise hin und her wiegten in dem leichten Wind, der die dämmrigen Gartenpfade entlangkroch und die gefallenen Blätter ein bißchen verschob.
Die Landschaft wurde schnell dunkel, wie vor einem Sturm, aber sie konnten immer noch alle Gestalten an ihren unterschiedlichen Plätzen sehen. Atkinson lehnte gegen einen Baum, mit teilnahmslosem Gesicht; Quintons Frau war immer noch an ihrem Fenster; der Doktor schlenderte um das Ende des Gewächshauses herum, sie konnten seine Zigarre wie ein Irrlicht sehen; und der Fakir saß immer noch starr und doch sich wiegend da, während die Bäume über ihm zu schwanken und fast zu brausen begannen. Mit Sicherheit kam ein Sturm auf.
»Als der Inder mit uns sprach«, fuhr Brown in leichtem Plauderton fort, »hatte ich eine Art Vision, eine Vision von ihm und seinem ganzen Universum. Und doch sagte er nur dreimal das gleiche. Als er zum erstenmal sagte ›Ich wünsche nichts‹, bedeutete das lediglich, daß er undurchdringlich sei, daß Asien sich nicht selbst aufgebe. Dann sagte er wiederum ›Ich wünsche nichts‹, und ich wußte, er meinte, daß er sich selbst genüge wie der Kosmos und daß er weder einen Gott brauche noch irgendwelche Sünden anerkenne. Und als er zum drittenmal sagte ›Ich wünsche nichts‹, da sagte er das mit flammenden Augen. Und ich wußte, daß er buchstäblich meinte, was er sagte; daß nichts sein Begehren und seine Heimat sei; daß er sich nach nichts sehnte wie nach Wein; daß Vernichtung, die reine Zerstörung von allem und jedem – «
Zwei Tropfen Regen fielen; und aus irgendeinem Grunde fuhr Flambeau zusammen und blickte hoch, als hätten sie ihn gestochen. Und im gleichen Augenblick begann der Doktor unten am Ende des Gewächshauses auf sie zuzulaufen und ihnen im Rennen etwas zuzurufen.
Als er wie eine Kanonenkugel zwischen sie schoß, näherte sich der ruhelose Atkinson zufällig der Hausfront; und der Doktor ergriff ihn beim Kragen mit einem krampfigen Griff. »Teufelswerk!« schrie er. »Was hast du ihm angetan, du Hund?«
Der Priester war aufgesprungen und hatte die stählerne Stimme eines kommandierenden Offiziers.
»Keine Schlägerei!« rief er kühl. »Wir sind genug, um jeden festzuhalten, den wir halten wollen. Was ist los, Doktor?«
»Mit Quinton ist irgendwas nicht in Ordnung«, sagte der Doktor totenblaß. »Ich habe ihn gerade durch die Scheiben gesehen und mir gefällt gar nicht, wie er daliegt. Jedenfalls nicht so, wie ich ihn verlassen habe.«
»Wir wollen zu ihm gehen«, sagte Father Brown kurz. »Sie können Mr. Atkinson loslassen. Ich hatte ihn die ganze Zeit im Auge, seit wir Quintons Stimme gehört haben.«
»Ich werde hierbleiben und auf ihn aufpassen«, sagte Flambeau hastig. »Sie gehen rein und sehen nach.«
Der Doktor und der Priester flogen zur Tür des Arbeitszimmers, schlossen sie auf und stürzten in den Raum. Dabei fielen sie fast über den großen Mahagonitisch in der Mitte des Raumes, an dem der Dichter meistens schrieb; denn das Zimmer war nur durch ein kleines Feuer erleuchtet, das für den Kranken brannte. In der Mitte dieses Tisches lag ein einzelnes Blatt Papier, offenkundig absichtlich dort belassen. Der Doktor schnappte es sich, warf einen Blick darauf, reichte es Father Brown, rief: »Guter Gott, sehen Sie sich das an!« und stürzte in den rückwärts liegenden gläsernen Raum, wo die furchtbaren tropischen Blumen eine karmesinfarbene Erinnerung an den Sonnenuntergang zu bewahren schienen.
Father Brown las die Worte dreimal, ehe er das Papier sinken ließ. Die Worte lauteten: »Ich sterbe von eigener Hand; und dennoch sterbe ich ermordet!« Sie waren in der wirklich unnachahmlichen, um nicht zu sagen unleserlichen Handschrift von Leonard Quinton.
Dann strebte Father Brown, das Papier immer noch in der Hand, dem Gewächshaus zu, nur um seinem ärztlichen Freund zu begegnen, der mit einem Gesichtsausdruck der Gewißheit und des Entsetzens zurückkam. »Er hat es getan«, sagte Harris.
Sie gingen zusammen durch die prangende unnatürliche Schönheit von Kakteen und Azaleen und fanden Leonard Quinton, Dichter und Romancier, mit von seiner Ottomane herabhängendem Haupt, dessen rote Locken den Boden fegten. In seine linke Seite war der sonderbare Dolch getrieben, den sie im Garten aufgelesen hatten, und seine schlaffe Hand ruhte noch auf dem Griff.
Draußen war der Sturm losgebrochen, wie die Nacht bei Coleridge, und Garten und Glasdach verdunkelte der prasselnde Regen. Father Brown schien das Papier aufmerksamer zu studieren als die Leiche; er hielt es dicht vor seine Augen und schien zu versuchen, es im Zwielicht zu lesen. Dann hielt er es gegen das schwache Licht empor, und in diesem Augenblick zuckte ein Blitz daher so weiß, daß das Papier gegen ihn schwarz erschien.
Dunkelheit voll Donner folgte, und nach dem Donner sagte Father Browns Stimme aus der Dunkelheit: »Doktor, dieses Papier hat die falsche Form.«
»Was meinen Sie?« fragte Dr. Harris und starrte ihn stirnrunzelnd an.
»Es ist nicht viereckig«, antwortete Brown. »Da ist so eine Art Rand an der Ecke abgeschnitten. Was bedeutet das?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?« brummte der Doktor. »Was meinen Sie, sollen wir diesen armen Kerl nicht aufheben? Er ist mausetot.«
»Nein«, antwortete der Priester; »wir müssen ihn lassen, wie er liegt, und nach der Polizei schicken.« Aber immer noch untersuchte er das Papier.
Als sie durch das Arbeitszimmer zurückgingen, blieb er am Tisch stehen und hob eine kleine Nagelschere auf. »Aha«, sagte er einigermaßen erleichtert; »damit hat er es also getan. Und doch – « Und er runzelte die Brauen.
»Ach hören Sie doch auf, mit dem Papierfetzen herumzumachen«, sagte der Doktor mit Nachdruck. »Das war eine seiner Marotten. Er hatte deren Hunderte. Er hat sein gesamtes Papier so beschnitten«, und er wies auf einen Stapel unbenutzten Konzeptpapiers auf einem anderen und kleineren Tisch. Father Brown ging hin und nahm ein Blatt auf. Es hatte die gleiche unregelmäßige Form.