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»Tatsächlich«, sagte er. »Und hier sehe ich die abgeschnittenen Ecken.« Und zur Empörung seines Kollegen begann er sie zu zählen.

»Stimmt«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »23 Blatt und 22 abgeschnittene Ecken. Und da ich sehe, daß Sie ungeduldig sind, wollen wir wieder zu den anderen gehen.«

»Wer soll es seiner Frau sagen?« fragte Dr. Harris. »Wollen Sie nicht zu ihr gehen und es ihr beibringen, während ich einen Diener zur Polizei schicke?«

»Wie Sie wollen«, sagte Father Brown gleichgültig. Und er ging hinaus zur Tür in der Eingangshalle.

Auch hier fand er ein Drama vor, allerdings eines von der groteskeren Art. Es zeigte nichts Geringeres als seinen riesigen Freund Flambeau in einer Haltung, an die er seit langem nicht mehr gewöhnt war, während auf dem Gehsteig zu Füßen der Treppe der liebenswerte Atkinson mit den Beinen in der Luft strampelte und Melone und Spazierstöckchen in entgegengesetzte Richtungen den Gehsteig entlang davonflogen. Atkinson war schließlich Flambeaus fast väterlicher Obsorge müde geworden und hatte sich unterfangen, ihn niederzuschlagen, wobei mit dem König der Apachen zu spielen kein leichtes Unterfangen war, selbst nicht nach der Abdankung dieses Monarchen.

Flambeau setzte gerade an, sich erneut auf seinen Gegner zu werfen und ihn von neuem zu packen, als der Priester ihm leicht auf die Schulter klopfte.

»Schließen Sie Frieden mit Mr. Atkinson, mein Freund«, sagte er. »Bittet euch gegenseitig um Vergebung und sagt ›Gute Nacht‹. Wir brauchen ihn nicht länger festzuhalten.« Nachdem aber Atkinson sich einigermaßen mißtrauisch erhoben und Hut und Stock an sich gerafft hatte und zum Gartentor ging, fragte Father Brown mit ernsterer Stimme: »Wo ist dieser Inder?«

Alle drei (denn der Doktor hatte sich ihnen angeschlossen) wandten sich unwillkürlich der verschwommenen Grasbank mitten zwischen den rauschenden, im Dämmerlicht purpurnen Bäumen zu, wo sie den braunen Mann zuletzt sich in seinen fremdartigen Gebeten wiegend gesehen hatten. Der Inder war verschwunden.

»Hol ihn der Teufel«, sagte der Doktor und stampfte wütend auf. »Jetzt weiß ich, daß es der schwarze Kerl getan hat.«

»Ich dachte, Sie glaubten nicht an Zauberei«, sagte Father Brown ruhig.

»Tu ich auch nicht«, sagte der Doktor und rollte die Augen. »Ich weiß nur, daß ich den gelben Teufel schon verabscheute, als ich noch dachte, er sei ein falscher Zauberer. Und ich werde ihn noch mehr verabscheuen, wenn ich zu der Überzeugung kommen sollte, daß er ein wirklicher ist.«

»Daß er verschwunden ist, bedeutet nichts«, sagte Flambeau. »Denn wir hätten ihm nichts beweisen und nichts gegen ihn unternehmen können. Man kann der Ortspolizei schlecht mit einer Geschichte von Selbstmord, herbeigeführt durch Zauberei oder Autosuggestion, kommen.«

Inzwischen war Father Brown ins Haus gegangen, um der Frau des Toten die Neuigkeit zu überbringen.

Als er wieder herauskam, sah er etwas bleich und ergriffen aus; doch was sich zwischen ihnen bei jener Unterredung abgespielt hat, ist nie bekanntgeworden, selbst nachdem alles bekanntgeworden war.

Flambeau, der sich ruhig mit dem Doktor unterhielt, war überrascht, seinen Freund so rasch wieder neben sich auftauchen zu sehen; aber Brown nahm das nicht zur Kenntnis, sondern zog lediglich den Doktor auf die Seite. »Sie haben doch nach der Polizei geschickt, oder?« fragte er.

»Ja«, sagte Harris. »Sie müssen in etwa zehn Minuten hier sein.«

»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« sagte der Priester ruhig. »Die Wahrheit ist, daß ich jene sonderbaren Geschichten sammle, welche oftmals wie im Fall unseres Hindu-Freundes Elemente enthalten, die man schlecht in einen Polizeibericht schreiben kann. Nun möchte ich, daß Sie mir zu meiner privaten Verwendung einen Bericht über diesen Fall schreiben. Ihr Beruf erfordert Klugheit«, sagte er und sah dem Arzt ernst und stetig ins Gesicht. »Ich meine manchmal, daß Sie bestimmte Einzelheiten dieses Falles kennen, die zu erwähnen Sie nicht für zweckmäßig gehalten haben. Mein Beruf ist ein verschwiegener wie der Ihre, und ich werde alles, was Sie mir aufschreiben, streng vertraulich behandeln. Aber schreiben Sie alles auf.«

Der Doktor, der den Kopf ein bißchen zur Seite geneigt und nachdenklich zugehört hatte, sah dem Priester für einen Augenblick ins Gesicht und sagte: »In Ordnung«, und ging ins Arbeitszimmer, dessen Tür er hinter sich schloß.

»Flambeau«, sagte Father Brown, »da steht eine Bank auf der Veranda, wo wir vor dem Regen geschützt rauchen können. Sie sind mein einziger Freund auf Erden, und jetzt möchte ich mit Ihnen reden. Oder vielleicht mit Ihnen schweigen.«

Sie machten es sich auf der Verandabank bequem; Father Brown nahm gegen seine sonstige Gewohnheit eine gute Zigarre an und rauchte sie stetig und schweigend, während der Regen das Verandadach kreischen und klappern machte.

»Mein Freund«, sagte er schließlich, »das ist ein sehr sonderbarer Fall. Ein sehr sonderbarer Fall.«

»Das scheint mir auch so«, sagte Flambeau mit einem leichten Schaudern.

»Sie nennen ihn sonderbar, und ich nenne ihn sonderbar«, sagte der andere, »und doch meinen wir ganz gegensätzliche Dinge. Der moderne Verstand verwechselt dauernd zwei verschiedene Ideen: Geheimnis im Sinn des Wundersamen, und Geheimnis im Sinn des Komplizierten. Das ist die halbe Schwierigkeit mit Wundern. Ein Wunder ist verblüffend; aber es ist einfach. Es ist einfach, weil es ein Wunder ist. Es ist Macht, die direkt von Gott (oder vom Teufel) kommt und nicht indirekt durch die Natur oder den menschlichen Willen. Nun glauben Sie, daß dies hier wundersam ist, weil es ein Wunder ist, weil es Zauberei ist, die ein teuflischer Inder beging. Verstehen Sie wohl, ich sage nicht, daß es nicht geistig oder teuflisch ist. Himmel und Hölle allein wissen, durch welche Einflüsse der Umgebung fremdartige Sünder ins Leben der Menschen geraten. In diesem Falle aber ist meine Meinung folgende: Wenn es reine Magie war, wie Sie glauben, dann ist das wundersam; aber es ist nicht geheimnisvoll – das heißt, nicht kompliziert. Das Wesen eines Wunders ist geheimnisvoll, aber seine Art ist einfach. Nun war aber die Art dieses Falles das Gegenteil von einfach.«

Der Sturm, der für eine Weile abgeflaut war, schien wieder zuzunehmen, und von fernher kam ein schweres Rollen wie von schwachem Donner. Father Brown ließ die Asche seiner Zigarre fallen und fuhr fort:

»Dieser Vorfall ist«, sagte er, »von verdrehtem, häßlichem, komplexem Wesen, das weder den direkten Schlägen des Himmels noch denen der Hölle zu eigen ist. Wie man die krumme Spur einer Schnecke erkennt, erkenne ich die krumme Spur eines Menschen.«

Der weiße Blitz öffnete für ein Blinzeln sein riesiges Auge, der Himmel schloß sich wieder, und der Priester fuhr fort:

»Von allen diesen krummen Dingen war das krummste die Form jenes Stücks Papier. Sie war krummer als die Form des Dolches, der ihn tötete.«

»Sie meinen das Papier, auf dem Quinton seinen Selbstmord bekannte«, sagte Flambeau.

»Ich meine das Papier, auf das Quinton ›Ich sterbe von eigener Hand‹ geschrieben hat«, antwortete Father Brown. »Die Form dieses Papiers, mein Freund, war die falsche Form; die falsche Form, wenn ich je eine in dieser bösen Welt gesehen habe.«

»Es war doch nur eine Ecke abgeschnitten«, sagte Flambeau, »und soviel ich weiß, war alles Papier von Quinton auf diese Art beschnitten.«

»Das war eine sehr befremdliche Art«, sagte der andere, »und für meinen Geschmack und mein Gefühl eine sehr üble Art. Sehen Sie, Flambeau, dieser Quinton – Gott möge seine Seele in Gnaden aufnehmen! – war vielleicht in gewisser Hinsicht ein bißchen ein Lumpenhund, aber er war wirklich ein Künstler, mit dem Zeichenstift wie mit der Feder. Seine Handschrift war, obwohl schwer zu lesen, kühn und schön. Ich kann nicht beweisen, was ich sage; ich kann überhaupt nichts beweisen. Aber ich sage Ihnen aus felsenfester Überzeugung, daß er nie imstande gewesen wäre, dieses gemeine Stückchen von einem Papierblatt abzuschneiden. Wenn er sich das Papier zu irgendeinem Zweck hätte zurechtschneiden wollen, damit es paßt oder fürs Binden oder für was auch immer, dann hätte er mit der Schere einen ganz anderen Schnitt gemacht. Erinnern Sie sich an die Form? Es war eine gemeine Form. Es war eine falsche Form. Wie das hier. Erinnern Sie sich nicht?«