Выбрать главу

Soweit nun paßte alles endgültig und vernünftig zusammen. Valentin hatte durch seine Nachforschungen am Morgen erfahren, daß ein Father Brown aus Essex ein silbernes Kreuz mit Saphiren bringen sollte, eine Reliquie von erheblichem Wert, die während des Kongresses einigen ausländischen Priestern gezeigt werden sollte. Das war unzweifelhaft das »Silber mit blauen Steinen«; und Father Brown war ebenso unzweifelhaft jenes kleine Greenhorn aus dem Zug. Nun gab es nichts Wunderbares an der Tatsache, daß das, was Valentin herausgefunden hatte, auch Flambeau herausgefunden hatte; Flambeau fand alles heraus. Auch gab es nichts Wunderbares an der Tatsache, daß, als Flambeau von dem Saphirkreuz erfahr, er den Versuch unternahm, es zu stehlen; das war das Allernatürlichste in der ganzen Naturgeschichte. Und es gab absolut nichts Wunderbares an der Tatsache, daß Flambeau ein solch dummes Schaf wie den Mann mit Schirm und Paketen nach Belieben auf jede Weide führen konnte. Den konnte schließlich jeder an einem Bindfaden zum Nordpol führen; nicht überraschend also, daß ein Schauspieler wie Flambeau, als Priester verkleidet, ihn nach Hampstead Heath führen konnte. So weit schien das Verbrechen klar genug; und während der Detektiv den Priester ob seiner Hilflosigkeit bemitleidete, empfand er fast Verachtung für Flambeau, weil der sich mit einem so leichtgläubigen Opferlamm eingelassen hatte. Wenn aber Valentin an alles das dachte, was sich in der Zwischenzeit abgespielt, was alles ihn zu seinem Triumph geführt hatte, zerbrach er sich vergeblich sein Hirn, um auch nur den kleinsten Reim darauf, die winzigste Vernunft darin zu finden. Was hatte der Diebstahl eines Blau-und-Silber-Kreuzes von einem Priester aus Essex damit zu tun, Suppe an die Tapete zu schleudern? Was hatte das damit zu tun, Nüsse Orangen zu nennen oder zuerst für ein Fenster zu bezahlen und es danach einzuschlagen? Zwar war er ans Ende seiner Jagd gelangt; aber irgendwie hatte er ihr Mittelstück verpaßt. Wenn er versagte (was selten geschah), hatte er meistens den Anhaltspunkt, aber dennoch den Verbrecher nicht erwischt. Hier hatte er den Verbrecher erwischt, aber er konnte den Anhaltspunkt immer noch nicht fassen.

Die beiden Gestalten, denen sie folgten, krochen wie schwarze Fliegen über den großen grünen Umriß eines Hügels. Sie waren ganz offensichtlich im Gespräch versunken und bemerkten vielleicht nicht einmal, wohin sie gingen; mit Sicherheit aber gingen sie auf die wilderen und schweigenderen Höhen der Heath zu. Ihre Verfolger, als sie ihnen näher kamen, mußten sich jener unwürdigen Haltungen der Rotwildjäger bedienen, sich hinter Baumgruppen verstecken und sogar auf dem Bauch durchs hohe Gras kriechen. Durch solch plumpe Listen kamen die Jäger der Beute schließlich so nahe, daß sie das Murmeln der Unterhaltung hörten, doch konnte man kein Wort unterscheiden außer dem Wort »Vernunft«, das oft in einer hohen und fast kindlichen Stimme erklang. Einmal verloren die Detektive wegen eines jähen Abfalls des Bodens und eines dichten Gewirrs von Dickicht die beiden Gestalten, denen sie folgten. Während 10 tödlichen Minuten fanden sie die Spur nicht wieder, und dann führte sie um den Rand einer großen Hügelkuppe herum, die ein Amphitheater reicher und verlassener Sonnenuntergangsszenerie überblickte. Unter einem Baum stand an dieser beherrschenden aber vernachlässigten Stelle eine alte wackelige Holzbank. Auf der saßen die beiden Priester ruhig in ernstem Gespräch beisammen. Das prangende Grün und Gold hing noch am dunkelnden Horizont; aber die Halbkugel darüber wandelte sich langsam von Pfauengrün zu Pfauenblau, und die Sterne lösten sich mehr und mehr heraus wie stattliche Juwelen. Valentin winkte stumm seine Gefolgschaft her; dann gelang es ihm, sich hinter den großen weitverzweigten Baum zu schleichen, und während er dort in tödlichem Schweigen stand, vernahm er zum ersten Mal die Worte der sonderbaren Priester.

Nachdem er anderthalb Minuten gelauscht hatte, überfiel ihn ein teuflischer Zweifel. Vielleicht hatte er die beiden englischen Polizisten in die Einöden einer nächtlichen Heide verschleppt auf einer Suche, die nicht sinnvoller war als die Suche nach Feigen an einer Distel. Denn die beiden Priester sprachen genau wie Priester – andächtig, gelehrt und mit Muße – über die subtilsten Geheimnisse der Theologie. Der kleine Priester aus Essex führte die einfachere Sprache, während er sein rundes Gesicht den erstrahlenden Sternen zuwandte; der andere sprach mit gesenktem Haupt, als sei er nicht einmal würdig, zu ihnen aufzuschauen. Doch hätte unschuldigeres Priestergespräch in keinem weißen italienischen Kloster, in keiner schwarzen spanischen Kathedrale vernommen werden können.

Die ersten Worte, die er hörte, waren die letzten eines Satzes von Father Brown, der endete: »… was das Mittelalter wirklich meinte, wenn es den Himmel unbestechlich nannte.«

Der größere Priester nickte mit gesenktem Haupt und sagte:

»Ach ja, diese modernen Ungläubigen rufen ihre Vernunft an; wer aber kann diese Millionen von Welten anschauen und nicht empfinden, daß es über uns wunderbare Universen geben mag, in denen Vernunft vollkommen unvernünftig ist?«

»Nein«, sagte der andere Priester; »Vernunft ist immer vernünftig, selbst in der letzten Vorhölle, jenem verlorenen Grenzland der Dinge. Ich weiß, daß viele der Kirche vorwerfen, sie setze die Vernunft herab, aber es ist genau umgekehrt. Auf Erden räumt nur die Kirche allein der Vernunft ihre wahre Hoheit ein. Auf Erden bekräftigt nur die Kirche allein, daß Gott selbst durch die Vernunft gebunden ist.«

Der andere Priester hob sein strenges Antlitz dem flimmernden Himmel entgegen und sagte:

»Wer weiß, ob nicht in jenem unendlichen Universum…«

»Unendlich nur physisch«, sagte der kleine Priester und wandte sich jäh auf seinem Sitz um, »nicht unendlich in dem Sinne, daß es den Gesetzen der Wahrheit entkäme.«

Valentin riß sich hinter seinem Baum in stummer Wut fast die Fingernägel aus. Ihm war, als höre er bereits das Spottgekicher der englischen Detektive, die er aufgrund eines phantastischen Einfalls so weit hergeschleppt hatte, nur um dem metaphysischen Geschwätz zweier freundlicher alter Pfarrer zu lauschen. In seiner Ungeduld entging ihm die nicht minder ausgetüftelte Antwort des großen Klerikers, und als er wieder lauschte, war es wieder Father Brown, der sprach:

»Vernunft und Gerechtigkeit beherrschen noch das fernste und einsamste Gestirn. Sehen Sie sich jene Sterne an. Sehen sie nicht aus, als wären es einzelne Diamanten und Saphire? Nun gut, Sie können sich jede noch so verrückte Botanik oder Geologie nach Beheben einbilden. Denken Sie sich Wälder aus Diamanten mit Blättern aus Brillanten. Denken Sie sich den Mond als blauen Mond, als einen gigantischen Saphir. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß all diese verrückte Astronomie für die Vernunft und die Gerechtigkeit des Handelns auch nur den geringsten Unterschied machte. Auf Ebenen voller Opale und unter Klippen, geschnitten aus Perlen, werden Sie immer noch die Tafel mit der Inschrift finden: ›Du sollst nicht stehlen‹.«

Valentin war gerade dabei, sich aus seiner starren und kauernden Lage zu erheben und so leise wie nur möglich hinwegzuschleichen, zermalmt unter der einen großen Torheit seines Lebens. Aber irgend etwas im Schweigen des großen Priesters ließ ihn warten, bis jener wieder sprach. Und als er wieder sprach, sagte er mit gebeugtem Haupt und den Händen auf den Knien einfach:

»Nun gut, ich glaube aber immer noch, daß andere Welten möglicherweise unsere Vernunft übersteigen. Die Mysterien des Himmels sind unauslotbar, und ich für mein Teil kann nur mein Haupt beugen.«