Der Schatten eines Lächelns überflog das runde einfache Gesicht seines klerikalen Gegners.
»Vermutlich, indem ich ein zölibatärer Einfaltspinsel bin«, sagte er. »Ist Ihnen denn nie in den Sinn gekommen, daß einem Mann, der praktisch nichts anderes tut, als den wirklichen Sünden anderer Menschen zuzuhören, das menschliche Böse nicht ganz unbekannt ist? Übrigens, noch eine andere Seite meines Berufes überzeugte mich davon, daß Sie kein Priester sind.«
»Was?« fragte der Dieb mit offenem Mund.
»Sie haben die Vernunft angegriffen«, sagte Father Brown. »Das ist schlechte Theologie.«
Und als er sich umwandte, um sein Eigentum einzusammeln, kamen die drei Polizisten aus dem Zwielicht der Bäume hervor. Flambeau war ein Künstler und ein anständiger Kerl. Er trat zurück und grüßte Valentin mit einer tiefen Verneigung.
»Verbeugen Sie sich nicht vor mir, mon ami«, sagte Valentin mit silberner Klarheit. »Verneigen wir uns beide vor unserem Meister.«
Und beide standen sie einen Augenblick mit entblößten Köpfen, während der kleine Essex-Priester blinzelnd nach seinem Regenschirm suchte.
Der verborgene Garten
Aristide Valentin, Chef der Pariser Polizei, hatte sich zum Abendessen verspätet, und einige seiner Gäste waren schon vor ihm eingetroffen. Sie wurden jedoch von seinem Vertrauensdiener Iwan beruhigt, dem alten Mann mit einer Narbe und einem Gesicht, das fast so grau war wie sein Schnurrbart, und der immer an einem Tisch in der Eingangshalle saß – einer Halle, die voller Waffen hing. Valentins Haus war vielleicht ebenso eigenartig und berühmt wie sein Herr. Es war ein altes Haus, dessen hohe Mauern und ragende Pappeln beinahe über der Seine hingen; aber die Eigenartigkeit – und vielleicht der polizeiliche Wert – seiner Architektur war, daß es nur einen einzigen Ausgang gab, nämlich den durch die Eingangstür, die von Iwan und dem Waffenarsenal bewacht wurde. Der Garten war groß und kunstvoll angelegt, und es gab viele Zugänge vom Haus in den Garten. Aber es gab keinen Ausgang vom Garten in die Außenwelt; ihn umgab eine hohe, glatte, unübersteigbare Mauer, oben mit ausgesuchten Stacheln besetzt; vielleicht kein übler Garten zum Nachdenken für einen Mann, den einige hundert Verbrecher zu töten geschworen hatten.
Wie Iwan den Gästen erklärte, hatte ihr Gastgeber angerufen, daß er für etwa zehn Minuten aufgehalten sei. Er hatte tatsächlich noch einige letzte Anweisungen für Hinrichtungen und ähnlich häßliche Dinge zu geben; und obwohl ihm diese Pflichten zutiefst widerwärtig waren, erfüllte er sie doch immer aufs präziseste. So unbarmherzig er auch bei der Jagd nach Verbrechern war, so milde war er in der Frage ihrer Bestrafung. Seit er über die französischen – und weitgehend über die europäischen – Polizeimethoden gebot, hatte er seinen großen Einfluß höchst ehrenhaft für die Milderung der Urteile und die Säuberung der Gefängnisse eingesetzt. Er war einer der großen humanitären französischen Freidenker; und ihr einziger Fehler ist, daß unter ihren Händen Barmherzigkeit noch kälter wird als Gerechtigkeit.
Als Valentin eintraf, trug er bereits den Abendanzug und die rote Rosette – eine elegante Gestalt, der schwarze Bart schon grau meliert. Er durchschritt sein Haus und ging direkt in sein Arbeitszimmer, das zum Garten hin lag. Die Gartentür stand offen, und nachdem er seinen Aktenkoffer sorgsam an dessen offiziellem Platz eingeschlossen hatte, stand er für einige Sekunden in der offenen Tür und blickte in den Garten hinaus. Ein greller Mond kämpfte mit den vorbeijagenden Wolkenfetzen eines Sturms, und Valentin sah sich das mit einer Sehnsüchtigkeit an, die für einen so wissenschaftlichen Geist unüblich ist. Vielleicht aber haben gerade solch wissenschaftliche Geister bestimmte psychische Vorahnungen vom bedeutendsten Problem in ihrem Leben. Doch bald erholte er sich von jedweder solchen übersinnlichen Anwandlung, denn er wußte, daß er sich verspätet hatte und seine Gäste bereits einzutreffen begannen. Als er seinen Salon betrat, genügte aber ein Blick zur Feststellung, daß sein Hauptgast jedenfalls noch nicht eingetroffen war. Doch alle anderen Säulen seiner kleiner Gesellschaft sah er: Er sah Lord Galloway, den englischen Botschafter – ein cholerischer alter Mann mit rötlichbraunem Apfelantlitz, der das blaue Band des Hosenbandordens trug. Er sah Lady Galloway, fadenhaft dünn, mit silbernem Haar und sensiblem, hoheitsvollem Gesicht. Er sah ihre Tochter, Lady Margaret Graham, ein blasses und hübsches Mädchen mit Elfenantlitz und kupfernem Haar. Er sah die Herzogin von Mont St. Michel, schwarzäugig und üppig, und bei ihr ihre beiden Töchter, ebenfalls schwarzäugig und üppig. Er sah Dr. Simon, einen typischen französischen Wissenschaftler, mit Brille, einem spitzen braunen Bart und jenen waagerecht parallelen Stirnfalten, die die Strafe der Hochmütigen sind, denn sie entstehen durch ständiges Hochziehen der Augenbrauen. Er sah Father Brown aus Cobhole in Essex, den er erst kürzlich in England getroffen hatte. Er sah – mit vielleicht größerem Interesse als für jeden der anderen – einen großen Mann in Uniform, der sich vor den Galloways verneigt hatte, ohne ausgesprochen herzlich begrüßt worden zu sein, und der sich nun allein näherte, um seinen Gastgeber zu begrüßen. Das war Major O’Brien von der französischen Fremdenlegion. Er war eine schlanke, aber etwas prahlerische Erscheinung, glattrasiert, dunkelhaarig, blauäugig, und wie es bei einem Offizier jenes berühmten Regiments der siegreichen Versager und der erfolgreichen Selbstmörder nur natürlich schien, trug er eine verwegene und zugleich melancholische Miene zur Schau. Von Geburt war er ein irischer Adliger und hatte die Galloways in seinen Jugendjahren gekannt – besonders Margaret Graham. Er hatte sein Vaterland einer Schuldensache wegen verlassen und zeigte jetzt seine völlige Unabhängigkeit von britischer Etikette, indem er in Uniform mit Säbel und Sporen einherschritt. Als er sich vor der Familie des Botschafters verbeugte, neigten Lord und Lady Galloway steif ihre Häupter, und Lady Margaret sah weg.
Aus welchen alten Gründen solche Leute auch immer an einander interessiert sein mochten, ihr vornehmer Gastgeber war an ihnen nicht sonderlich interessiert. Jedenfalls war in seinen Augen keiner von ihnen der Gast des Abends. Valentin erwartete aus bestimmten Gründen einen Mann weltweiten Rufes, dessen Freundschaft er sich bei Gelegenheit seiner großen Detektivreisen und seiner Triumphe in den Vereinigten Staaten gesichert hatte. Er erwartete Julius K. Brayne, jenen Multimillionär, dessen kolossale, ja überwältigende Geldspenden an kleine Religionsgemeinschaften den amerikanischen und den englischen Zeitungen so viel billigen Witz und noch billigere Feierlichkeit verschafft hatten. Niemand konnte herausfinden, ob Brayne ein Atheist oder ein Mormone oder ein Anhänger der Christian Science war; doch war er jederzeit bereit, sein Geld in ein geistiges Gefäß zu schütten, solange es nur ein unerprobtes Gefäß war. Eines seiner Steckenpferde war es, auf den amerikanischen Shakespeare zu warten – ein Steckenpferd, das noch mehr Geduld verlangt als Angeln. Er bewunderte Walt Whitman, war aber der Überzeugung, daß Luke P. Tanner aus Paris in Pennsylvanien im kleinen Finger »fortschrittlicher« war als der ganze Whitman. Er mochte alles, was er für »fortschrittlich« hielt. Er hielt Valentin für »fortschrittlich«, womit er ihm ein schweres Unrecht antat.
Die mächtige Erscheinung von Julius K. Brayne im Salon wirkte so wie der Gong zur Abendtafel. Er besaß jene große Eigenschaft, die nur wenigen von uns gegeben ist, daß seine Anwesenheit ebenso platzgreifend war wie seine Abwesenheit. Er war ein riesiger Kerl, so fett wie groß, vollständig in Abendschwarz gekleidet, das nicht einmal durch eine Uhrkette oder einen Ring aufgehellt wurde. Sein Haar war weiß und so säuberlich zurückgekämmt wie das eines Deutschen; sein Gesicht war rot, ungestüm und pausbäckig mit einem schwarzen Stutzbärtchen unter der Unterlippe, was seinem sonst eher kindlichen Gesicht etwas Theatralisches, ja geradezu Mephistophelisches verlieh. Nicht lange aber starrte der salon nur auf den berühmten Amerikaner; seine Verspätung hatte sich bereits zu einem häuslichen Problem ausgewachsen, und so wurde er schleunigst mit Lady Galloway am Arm in den Speisesaal entsandt.