Alexander Kent
Feind in Sicht
Kommandant Bolithos Zweikampf im Atlantik
Kein Kommandant geht fehl, wenn er sein Schiff neben das des Feindes legt.
I Abschied
Die hohen Fenster des Golden Lion Inn, die nach Süden auf den Plymouth Sound gingen, zitterten heftig in den Rahmen, als in einer starken Bö der Regen wieder gegen die Scheiben prasselte.
Kapitän Richard Bolitho stand vor einem lodernden Holzfeuer, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, und blickte, ohne etwas zu sehen, vor sich auf den Teppich. Der plötzliche Windstoß ließ ihn aufsehen. Auf ihm lastete ein Ungewisser Druck, daneben aber auch eine ihm neue, befremdliche Furcht, das Land zu verlassen.
Schnell ging er zum Fenster und sah auf die verlassenen Straßen hinaus, das vor Nässe glänzende Pflaster und die kabbelige, graue See dahinter. Es war acht Uhr morgens, doch an diesem 1. November war es um diese Zeit fast noch zu dunkel, um durch die fleckigen Scheiben mehr als ein verschwommenes, graues Panorama zu erkennen. Er vernahm Stimmen vor seiner Tür, vom Hof drang das Klappern von Hufen und das Knarren von Rädern herauf, und ihm wurde bewußt, daß der Augenblick des Abschieds kurz bevorstand. Er beugte sich über das lange Messingteleskop, das auf einem Dreibein neben dem Fenster stand, zweifellos als Dienstleistung für die Gäste des Gasthofs gedacht oder zur Unterhaltung jener, für die der Anblick eines vorüberziehenden Kriegsschiffs nicht mehr als ein schönes Bild oder eine flüchtige Ablenkung bedeutete.
Es war merkwürdig, wenn man sich vor Augen hielt, daß das Jahr 1794 seinem Ende entgegenging und England seit annähernd zwei Jahren mit dem revolutionären Frankreich Krieg führte, es aber immer noch viele Leute gab, die der Gefahr, in der sie sich befanden, völlig gleichgültig gegenüberstanden oder sie überhaupt noch nicht erkannt hatten. Vielleicht waren die Nachrichten zu günstig, überlegte er. Denn zweifellos war der Seekrieg in diesem Jahr erfolgreich verlaufen. Howes Seesieg, der» glorreiche 1. Juni«, wie er jetzt genannt wurde, die Besetzung der französischen Inseln in Westindien durch Jarvis und auch die Einnahme von Korsika im Mittelmeer mußten doch ankündigen, daß der Weg zum Gesamtsieg offenstand. Aber Bolitho wußte zu gut Bescheid, um ein derart vorschnelles Urteil zu übernehmen. Der Krieg weitete sich nach allen Richtungen aus, und es hatte den Anschein, als würde er schließlich die ganze Welt erfassen. Und trotz seiner Flotte wurde England gezwungen, sich mehr und mehr auf seine eigenen Hilfsquellen zu beschränken.
Vorsichtig schwenkte Bolitho das Fernrohr nach einer Seite, betrachtete die Reihen der Schaumkronen, die den Sund überquerten, die keilförmige Halbinsel, die rasch vorbeiziehenden, bleigrauen Wolkenbänke. Der Wind frischte aus Nordwest auf, und es lag ein Hauch von Schnee in der Luft.
Er hielt den Atem an und richtete das Glas auf ein weit draußen liegendes, vereinzeltes Schiff, das anscheinend bewegungslos lag und den einzigen Farbfleck vor der düsteren See bildete.
Die Hyperion, sein Schiff, wartete dort auf ihn. Es war schwer, eigentlich unmöglich, sich den zerschlagenen, von Einschlägen zer-narbten Zweidecker vorzustellen, den er vor sechs Monaten nach Plymouth gebracht hatte, nach dem verzweifelten Kampf im Mittelmeer, nach Hoods vergeblichem Bemühen, Toulon zu besetzen und zu halten. Sechs Monate hatte er betteln und bestechen, Dockarbeiter einschüchtern und jede Phase der Reparatur und Neuausstattung des alten Schiffs überwachen müssen. Und die Hyperion war wirklich alt. Zweiundzwanzig Jahre waren vergangen, seit ihr solides Eichenholz aus Kent zum erstenmal Salzwasser geschmeckt hatte, und fast die ganze Zeit über war sie ständig im Einsatz gewesen: von der beißenden Eiseskälte des Nordatlantik bis zu den quälenden Flauten im Indischen Ozean; von den Gefechten im Mittelmeer bis zum geduldigen Blockadedienst vor dem einen oder anderen feindlichen Hafen.
Als das Schiff im Dock lag, hatte Bolitho gesehen, wie fast sechs Fuß langes Seegras von seinem bauchigen Rumpf gekratzt wurde. Kein Wunder, daß die Hyperion so langsam gewesen war. Jetzt sah sie zumindest äußerlich wie ein neues Schiff aus.
Das seltsam silbrige Licht spielte auf der hohen Bordwand, als das Schiff vor Anker stark schwojte. Selbst aus dieser Entfernung konnte er das straffe schwarze Spinnennetz der Takelage erkennen, die Doppelreihe der Stückpforten, das kleine, scharlachrote Viereck der Flagge, die steif im auffrischenden Wind stand.
Einmal hatte es fast schon so ausgesehen, als ob die Wiederherstellung, die Arbeiten und die Verzögerungen nie ein Ende nehmen würden. In den letzten Wochen war die Hyperion dann der wartenden See zurückgegeben worden, das Rigg wurde aufgerichtet, die vierundsiebzig Geschütze wurden ersetzt, der tiefliegende Rumpf mit Vorräten, Lebensmitteln, Pulver und Geschossen gefüllt. Und mit Menschen.
Bolitho richtete sich auf. Sechs Monate fern von seinem natürlichen Element waren für das Schiff eine lange Zeit. Dieses Mal lief es nicht mit einer erfahrenen, wohldisziplinierten Besatzung aus, über die er vor sechzehn Monaten das Kommando übernommen hatte und von der die meisten schon seit vier Jahren an Bord gewesen waren. Innerhalb dieser Zeit konnte man auch von der stursten Landratte erwarten, daß sie ihren Platz gefunden und sich eingeordnet hatte. Aber diese Leute waren abgemustert worden, nicht für eine wohlverdiente Ruhepause, sondern um — den Bedürfnissen der ständig wachsenden Flotte entsprechend — anders verteilt zu werden. Und ihm waren nur einige Altgediente geblieben, die gebraucht wurden, um sich der schwierigen Reparaturarbeiten anzunehmen. In den vergangenen Wochen war die neue Besatzung aus jeder denkbaren Quelle zusammengestellt worden: von anderen Schiffen, dem Hafenadmiral und selbst den örtlichen Gerichtsgefängnissen. Auf eigene Kosten, wenn auch mit wenig Hoffnung, hatte Bolitho Handzettel verteilen lassen und zwei Rekrutierungskommandos auf die Suche nach neuen Leuten ausgeschickt. Und zu seiner großen Verwunderung waren über vierzig Männer aus Cornwall an Bord gekommen, meist Leute vom Land, von Bauernhöfen und aus Bergwerken, aber alle freiwillig.
Der Leutnant, der sie auf das Schiff brachte, war voller Komplimente und fast schon Ehrfurcht gewesen, denn es war wirklich selten, daß jemand das Leben an Land aufgab, um es gegen die strenge Disziplin und die Gefahren auf einem Kriegsschiff einzutauschen. Bolitho konnte es noch nicht glauben, daß diese Männer tatsächlich unter ihm dienen wollten, einem Landsmann aus Corn-wall, dessen Name in ihrer heimatlichen Umgebung bekannt war und bewundert wurde. Es hatte ihn verblüfft und nicht wenig gerührt.
Jetzt war dies alles schon Vergangenheit. Seine neue Besatzung, eingepfercht in den hundertachtzig Fuß langen Rumpf, wartete auf ihn, den Mann, der — gleich nach Gott — über ihr Leben bestimmen würde. Sein Urteil und sein Können, seine Tapferkeit und was sonst immer würden darüber entscheiden, ob sie lebten oder starben. Der Hyperion fehlten zu ihrer vollständigen Besatzung von sechshundert Mann immer noch fünfzig, aber das war in diesen schweren Zeiten nicht sehr viel. Die wirkliche Schwierigkeit stand in unmit-tellbarer Zukunft bevor, wenn er jeden einzelnen antreiben mußte, um sie alle zu einer disziplinierten Einheit zu verschmelzen.
Er wurde aus seinem Brüten aufgestört, weil die Tür hinter ihm aufging. Als er sich umdrehte, sah er seine Frau im Türrahmen stehen. Sie trug einen langen grünen Samtmantel, dessen Kapuze das volle, kastanienbraune Haar unverhüllt ließ, und ihre Augen glänzten so hell, daß er befürchtete, sie halte ihre Tränen gerade noch zurück.
Er ging auf sie zu und faßte sie bei den Händen. Es fiel ihm immer noch schwer, die glückliche Fügung zu fassen, die Cheney zu seiner Frau gemacht hatte. Sie war schön und zehn Jahre jünger als er, und als er jetzt auf sie niedersah, war ihm bewußt, daß der Abschied von ihr das Schwerste war, was ihm je bevorgestanden hatte. Bolitho war siebenunddreißig Jahre alt und fuhr seit seinem zwölften Lebensjahr zur See. In dieser Zeit hatte er sowohl Strapazen als auch Gefahren überlebt, und er empfand eine gewisse Verachtung für jene, die lieber sicher zu Hause blieben, statt auf einem Schiff des Königs zur See zu fahren. Seit fünf Monaten war er mit Cheney verheiratet, aber jetzt erst begriff er, wie schmerzlich ein solcher Abschied war.