»Jede Menge«, erwiderte Brianna und fächerte den Stapel Fotokopien auf, den sie auf den Tisch im Flur gelegt hatte. »Das meiste konnte ich schon lesen, während sie die Kopien gemacht haben – das hier war das Interessanteste.« Sie zog ein Blatt aus dem Stapel und reichte es Roger.
Es war ein Auszug aus einem Buch mit Highlandlegenden; ein Eintrag mit der Überschrift »Des Fasses Sprung«.
»Legenden?«, sagte Claire, die ihm über die Schulter blickte. »Ist es das, wonach wir suchen?«
»Möglich«, sagte Roger geistesabwesend, denn er las das Blatt durch und war nur mit halbem Ohr bei mir. »Geschichte wurde in den schottischen Highlands bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts weitgehend mündlich überliefert. Das heißt, dass keine großen Unterschiede zwischen Geschichten über echte Menschen, Geschichten über historische Personen und Geschichten über mythische Wesen wie Wasserpferde und Gespenster und das Leben des Alten Volks gemacht wurden. Gelehrte, die die Geschichten aufgeschrieben haben, wussten oft selbst nicht mit Gewissheit, womit sie es zu tun hatten – oft war es eine Kombination von Tatsachen und Mythen, und manchmal konnte man erkennen, dass ein echter historischer Vorfall beschrieben wurde. Das hier zum Beispiel«, er reichte Claire das Blatt, »hört sich echt an. Es beschreibt die Geschichte hinter einer bestimmten Felsformation in den Highlands.«
Claire strich sich die Haare hinter das Ohr und senkte den Kopf, um den Text zu lesen. Sie blinzelte im gedämpften Licht der Deckenlampe. Fiona, für die staubige Papiere und langweilige historische Details nichts Neues waren, verschwand wieder in ihrer Küche, um sich um das Essen zu kümmern.
»›Des Fasses Sprung‹«, las Claire. »›Diese ungewöhnliche Formation ein Stück oberhalb eines Bachs wurde nach der Geschichte eines jakobitischen Gutsherrn und seines Bediensteten benannt. Der Gutsherr, einer der wenigen Glücklichen, die der Katastrophe von Culloden entkamen, kehrte mühsam nach Hause zurück, war jedoch gezwungen, sich fast sieben Jahre lang in einer Höhle auf seinem Land verborgen zu halten, während die Engländer in den Highlands Jagd auf Charles Stuarts geflüchtete Anhänger machten. Die Pächter des Gutsherrn waren ihm treu und hielten seine Anwesenheit geheim, und sie brachten ihm Essen und Vorräte in sein Versteck. Sie haben darauf geachtet, den Mann in dem Versteck immer nur als den Dunbonnet zu bezeichnen, um ihn auf keinen Fall an die englischen Patrouillen zu verraten, die häufig in der Gegend unterwegs waren. Eines Tages begegnete ein Junge, der seinem Herrn ein Fässchen Ale in die Höhle brachte, einer Gruppe englischer Dragoner. Da er sich tapfer weigerte, die Fragen der Soldaten zu beantworten oder ihnen seine Last zu überlassen, wurde er von einem der Dragoner attackiert und ließ das Fässchen fallen, das den steilen Hang hinunter in den Bach polterte.‹«
Sie blickte von dem Blatt auf und sah ihre Tochter mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Warum diese Geschichte? Wir wissen – oder wir glauben zu wissen«, verbesserte sie sich mit einem ironischen Kopfnicken in Rogers Richtung, »dass Jamie aus Culloden entkommen ist, aber er war ja nicht der Einzige. Warum glaubst du, dass dieser Gutsherr Jamie gewesen sein könnte?«
»Wegen der Sache mit dem Dunbonnet natürlich«, antwortete Brianna, als sei sie über die Frage überrascht.
»Was?« Roger sah sie verwundert an. »Was ist denn mit dem Dunbonnet?«
Als Antwort ergriff Brianna eine Strähne ihres dichten roten Haars und wedelte damit unter seiner Nase.
»Dunbonnet!«, sagte sie ungeduldig. »Eine schlichte braune Mütze, oder? Er hat ständig eine Mütze getragen, weil er Haare hatte, an denen man ihn erkennen konnte! Hast du nicht gesagt, die Engländer hätten ihn den ›Roten Jamie‹ genannt? Sie wussten, dass er rotes Haar hatte – er musste es verstecken!«
Roger starrte sie sprachlos an. Das Haar hing ihr lose auf den Schultern und schien von lebendigem Feuer erfüllt.
»Du könntest recht haben«, sagte Claire. Ihre Augen leuchteten vor Erregung, als sie ihre Tochter ansah. »Er hatte Haare wie du – Jamie hatte die gleichen Haare wie du, Brianna.« Sie streckte die Hand aus und strich Brianna sacht über das Haar. Das Gesicht der jungen Frau wurde sanft, als sie auf ihre Mutter hinunterblickte.
»Ich weiß«, sagte sie. »Daran habe ich beim Lesen gedacht – und versucht, ihn zu sehen.« Sie hielt inne und räusperte sich, als hätte sie etwas in den Hals bekommen. »Ich konnte ihn sehen, wie er sich in der Heide versteckt hat und sein Haar die Sonne reflektiert hat. Du hast gesagt, er war vogelfrei; ich … ich dachte nur, dass er sich ziemlich gut damit ausgekannt haben muss … wie man sich versteckt. Falls ihn jemand umbringen wollte«, schloss sie leise.
»Schön«, sagte Roger energisch, um den Schatten aus Briannas Augen zu verjagen. »Das ist ein Meisterstück der Ratekunst, aber vielleicht können wir es mit etwas mehr Mühe sicher sagen. Wenn wir den Felsen auf einer Karte finden …«
»Für wie dumm hältst du mich?«, sagte Brianna vorwurfsvoll. »Daran habe ich doch gedacht.« Der Schatten verschwand und wich einer selbstzufriedenen Miene. »Deshalb bin ich so spät gekommen; ich habe die Sekretärin sämtliche Karten der Highlands herausholen lassen, die sie hatten.« Sie zog eine weitere Fotokopie aus dem Stapel und stieß triumphierend mit dem Finger auf eine Stelle am oberen Rand.
»Seht ihr? Es ist so klein, dass es auf den meisten anderen Karten gar nicht auftaucht, aber auf dieser ist es eingezeichnet. Da oben; da ist das Dorf Broch Mordha, von dem Mama sagte, es ist in der Nähe des Anwesens Lallybroch, und da …«, ihr Finger bewegte sich ein paar Millimeter und zeigte auf eine mikroskopisch kleine Schriftzeile. »Seht ihr?«, wiederholte sie. »Er ist auf sein Anwesen zurückgekehrt – nach Lallybroch –, und dort hat er sich versteckt.«
»Ohne Lupe kann ich dir nur glauben, dass da ›Des Fasses Sprung‹ steht«, sagte Roger und richtete sich auf. Er grinste Brianna an. »Also dann, herzlichen Glückwunsch«, sagte er. »Ich glaube, du hast ihn gefunden – zumindest fürs Erste.«
Brianna lächelte, und ihre Augen schimmerten verdächtig. »Ja«, sagte sie leise. Sie berührte die beiden Blätter mit sanftem Finger. »Meinen Vater.«
Claire drückte ihrer Tochter die Hand. »Du magst ja dein Haar von deinem Vater haben, aber es ist schön zu sehen, dass du den Verstand von deiner Mutter hast«, sagte sie und lächelte. »Kommt, wir feiern deine Entdeckung mit Fionas Abendessen.«
»Gut gemacht«, sagte Roger zu Brianna, während sie Claire zum Esszimmer folgten. Seine Hand ruhte leicht auf ihrer Taille. »Du kannst stolz auf dich sein.«
»Danke«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln, doch ihr Mund nahm sofort wieder diesen angespannten Zug an.
»Was ist denn?«, fragte Roger leise und blieb im Flur stehen. »Stimmt etwas nicht?«
»Nein, eigentlich nicht.« Sie wandte sich ihm zu, und er sah eine kleine Falte zwischen ihren roten Augenbrauen. »Es ist nur … ich musste nur daran denken, habe versucht, mir vorzustellen … was glaubst du, wie es für ihn gewesen ist? Sieben Jahre in einer Höhle zu leben? Und was ist dann mit ihm geschehen?«
Impulsiv beugte sich Roger vor und küsste sie sacht zwischen die Brauen.
»Ich weiß es nicht, Brianna«, sagte er. »Aber vielleicht finden wir es ja heraus.«
Zweiter Teil
Lallybroch
Kapitel 4
Der Dunbonnet
Lallybroch, November 1752
Einmal im Monat ging er hinunter ins Haus, um sich zu rasieren, wenn ihm einer der Jungen die Nachricht brachte, dass keine Gefahr bestand. Immer in der Nacht, und er bewegte sich auf leisen Sohlen wie ein Fuchs durch die Dunkelheit. Irgendwie erschien es ihm notwendig, eine kleine Geste gegenüber der Idee der Zivilisation.