»Aber was ist mit dem anderen Haar?«, wollte Rabbie wissen. »Da rasiert man sich doch auch nicht!« Der kleine Jamie kicherte bei diesem Gedanken und wurde wieder rot.
»Und das ist auch verdammt gut so«, stellte sein älterer Namensvetter fest. »Man bräuchte eine teuflisch ruhige Hand dazu. Dafür aber keinen Spiegel«, fügte er unter allgemeinem Gekicher hinzu.
»Was ist denn mit den Damen?«, sagte Fergus. Bei dem Wort »Damen« kiekste er wie ein quakender Ochsenfrosch, so dass die beiden anderen noch heftiger lachten. »Auch les filles haben dort natürlich Haare, aber sie rasieren sie nicht ab – zumindest normalerweise nicht«, fügte er hinzu und dachte dabei eindeutig an einige der Dinge, die er in seiner Kindheit im Bordell gesehen hatte.
Jamie hörte die Schritte seiner Schwester durch den Flur kommen.
»Oh, nun ja, das ist kein Fluch«, verkündete er seinen gebannten Zuhörern, während er die Schüssel nahm und den Inhalt zielsicher zum offenen Fenster hinausschüttete. »Das hat Gott dem Mann als Trost geschenkt. Sollte euch je das Privileg zuteilwerden, eine Frau so zu sehen, wie Gott sie schuf, meine Herren«, sagte er und senkte vertraulich die Stimme, nachdem er einen Blick zur Tür geworfen hatte, »werdet ihr feststellen, dass das Haar dort in Form eines Pfeils wächst – es zeigt nämlich den Weg, damit der arme unwissende Mann sicher nach Hause finden kann.«
Er wandte sich mit einer ausladenden Geste von dem Kichern und Prusten in seinem Rücken ab, und plötzlich überkam ihn Scham, da er seine Schwester im langsamen Watschelgang der fortgeschrittenen Schwangerschaft durch den Flur kommen sah. Sie hielt das Tablett mit seinem Abendessen auf der Oberseite ihres Kugelbauchs. Wie hatte er sie nur so entwürdigen können, um eines groben Scherzes und eines Augenblicks der Kameradschaft mit den Jungen willen?
»Seid still!«, fuhr er die Jungen an, die abrupt aufhörten zu kichern und ihn verwundert ansahen. Er hastete auf Jenny zu, um ihr das Tablett abzunehmen, und stellte es auf den Tisch.
Diesmal enthielt die Pastete Ziegenfleisch und Schinkenspeck, und er sah, wie sich Fergus’ Adamsapfel bei ihrem Duft in seinem schmalen Hals auf und ab bewegte. Er wusste, dass sie das beste Essen für ihn aufbewahrten; dazu bedurfte es kaum eines Blickes in die verhärmten Gesichter am Tisch. Wenn er kam, brachte er immer mit, was er an Fleisch auftreiben konnte, in der Schlinge gefangene Kaninchen oder Moorhühner, manchmal ein Regenpfeifergelege – doch es war nie genug für ein Haus, dessen Gastfreundschaft nicht nur die Familie und die Dienstboten versorgen musste, sondern auch die Familie des ermordeten Murray und Kirby. Zumindest bis zum Frühjahr mussten die Witwen und Kinder seiner Pächter hier ausharren, und er musste sein Bestes tun, um sie satt zu bekommen.
»Setz dich zu mir«, sagte er zu Jenny. Er nahm ihren Arm und führte sie sanft zu einem Platz auf der Bank neben ihm. Ihre Miene war zwar überrascht – sie war es gewohnt, ihn zu bedienen, wenn er kam –, doch sie setzte sich bereitwillig hin. Es war spät, und sie war müde; er konnte die dunklen Schatten unter ihren Augen sehen.
Mit großer Entschlossenheit schnitt er ein großes Stück von der Pastete ab und stellte ihr den Teller hin.
»Aber das ist alles für dich!«, protestierte Jenny. »Ich habe doch schon gegessen.«
»Nicht genug«, sagte er. »Du brauchst mehr – für das Baby«, fügte er hinzu, weil ihm dieser Gedanke kam. Wenn sie schon nicht für sich selber aß, dann wenigstens für das Kind. Sie zögerte noch einen Moment, doch dann lächelte sie ihn an, nahm ihren Löffel und begann zu essen.
Jetzt war November, und die Kälte drang ihm wie ein Schlag durch das dünne Hemd und die Kniehose. Er bemerkte es kaum, so sehr war er auf seine Spurensuche konzentriert. Es war bewölkt, doch es waren nur dünne Schäfchenwolken, durch die der Vollmond reichlich Licht spendete.
Gott sei Dank regnete es nicht; im Prasseln der Regentropfen war es unmöglich, etwas zu hören, und der durchdringende Geruch nasser Pflanzen überdeckte den Geruch der Tiere. Seine Nase war in den langen Monaten seines Lebens im Freien so empfindlich geworden, dass es beinahe schmerzte; die Gerüche des Hauses warfen ihn manchmal beinahe zu Boden, wenn er eintrat.
Er war noch etwas zu weit entfernt, um den Moschus des Hirschs zu riechen, doch er hörte das verräterische Rascheln, als das Tier zusammenfuhr, weil es ihn witterte. Jetzt würde es erstarrt dastehen, einer der Schatten, die sich ringsum unter den dahinjagenden Wolken über den Hügel zogen.
So langsam er konnte, wandte er sich der Stelle zu, an der ihm seine Ohren den Hirsch verraten hatten. Er hatte den Bogen in der Hand, den Pfeil an der Sehne bereit. Er würde einen Schuss haben – vielleicht –, wenn der Hirsch davonstürmte.
Ja, da! Das Herz hüpfte ihm in die Kehle, als er das Geweih scharf und schwarz aus dem Ginster hervorstechen sah. Er zwang sich zur Ruhe, holte tief Luft und trat einen einzigen Schritt vor.
Meistens bekam man einen Schreck, wenn man auf der Pirsch war und ein Hirsch oder Reh lautstark die Flucht ergriff. Doch der Mann, der hier auf der Pirsch war, war vorbereitet. Er schrak weder zusammen, noch setzte er zur Verfolgung an, sondern blieb, wo er war, und sein Blick folgte entlang des Pfeilschaftes dem Weg des springenden Tiers, passte den rechten Moment ab, wartete, und dann peitschte ihm die Bogensehne schmerzhaft gegen das Handgelenk.
Es war ein sauberer Schuss direkt hinter die Schulter, und das war auch gut so; er bezweifelte, dass er die Kraft hatte, einen ausgewachsenen Hirsch zu stellen, wenn dieser flüchtete. Das Tier war an eine freie Stelle hinter einem Ginstergebüsch gefallen, hatte die Beine stocksteif in die Luft gestreckt, auf jene seltsam hilflose Weise, wie es sterbende Huftiere oftmals tun. Der Vollmond spiegelte sich in seinem Auge, so dass sein dunkler, sanfter Blick verborgen war, das Mysterium des Sterbens unter blankem Silber abgeschirmt.
Er zog den Dolch aus seinem Gürtel und kniete sich neben das Tier, während er hastig die Worte des Grallochgebetes sprach. Der alte John Murray, Ians Vater, hatte es ihn gelehrt. Sein eigener Vater hatte den Mund verzogen, als er davon hörte, woraus er schloss, dass dieses Gebet möglicherweise nicht an denselben Gott gerichtet war, zu dem sie sonntags in der Kirche sprachen. Doch sein Vater hatte nichts gesagt, und so hatte er die Worte gemurmelt und dabei kaum Notiz davon genommen, was er sagte, zu nervös und aufgeregt war er, als er Johns Hand in aller Ruhe auf der seinen spürte und die Messerklinge zum ersten Mal in pelzige Haut und dampfendes Gewebe niederpresste.
Jetzt war er längst erfahren und geübt und schob mit der einen Hand die klebrige Nase zurück, um dem Hirsch mit der anderen die Kehle durchzuschneiden.
Das Blut ergoss sich heiß über Messer und Hand, pulsierte zwei- oder dreimal, dann erstarb der Strahl zu einem ruhigen Strom, und der Kadaver blutete durch die durchtrennten Halsschlagadern aus. Hätte er innegehalten, um nachzudenken, hätte er es vielleicht nicht getan, doch Hunger und Schwindelgefühl und die berauschende Kälte der Nacht hatten ihn weit über den Punkt hinausgetragen, an dem er noch nachdachte. Er hielt die Hände wie einen Becher unter den fließenden Strom und führte sie dampfend an seinen Mund.
Der Mond schien schwarz auf seine gewölbten, überquellenden Hände, und es war, als absorbierte er die Essenz des Tiers, statt nur zu trinken. Der Geschmack des Blutes war voll Salz und Silber; es war so warm wie er. Er musste sich nicht an heiß oder kalt gewöhnen, als er trank, er spürte nur den kräftigen Geschmack in seinem Mund, den schwindelerregenden Geruch nach heißem Metall und sein plötzliches Magenknurren angesichts der nahen Nahrung.
Er schloss die Augen und atmete, und die kalte feuchte Luft kam zurück und drängte sich zwischen den scharfen Geruch des Kadavers und seine Sinne. Er schluckte, dann wischte er sich mit dem Handrücken über das Gesicht, säuberte sich die Hände im Gras und machte sich ans Werk.