»Milord …«, begann der Junge atemlos, als er am oberen Ende des Weges zum Vorschein kam, doch Jamie war schon an ihm vorbei und zog sich den Umhang um die Schultern, während er auf das Haus zuhastete.
»Aber Milord …«, ertönte Fergus’ Stimme japsend und verängstigt hinter ihm. »Milord, die Soldaten …«
»Soldaten?« Er blieb plötzlich stehen, drehte sich um und wartete ungeduldig darauf, dass der Franzosenjunge den Hang hinunterkam. »Was für Soldaten?«, wollte er wissen, als Fergus die letzten Meter rutschend zurücklegte.
»Englische Dragoner, Milord. Milady schickt mich, um es Euch zu sagen – Ihr sollt auf keinen Fall die Höhle verlassen. Einer der Männer hat die Soldaten gestern in der Nähe von Dunmaglas gesehen, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.«
»Verdammt.«
»Ja, Milord.« Fergus setzte sich auf einen Felsen und fächelte sich Luft zu. Seine schmale Brust hob und senkte sich, während er wieder zu Atem kam.
Jamie zögerte unentschlossen. Alles in ihm wehrte sich dagegen, in die Höhle zurückzukehren. Sein Blut war in Wallung durch die plötzliche Erregung, die Fergus’ Auftauchen verursacht hatte, und er begehrte gegen den Gedanken auf, kleinlaut wieder in sein Versteck zu kriechen wie ein Wurm, der Zuflucht unter seinem Stein suchte.
»Mmpfm«, sagte er. Er blickte auf Fergus hinunter. Allmählich zeigte ihm das zunehmende Licht den schlanken Umriss des Jungen vor dem schwarzen Ginster, doch sein Gesicht war noch nicht mehr als ein heller Fleck mit zwei dunkleren Flecken, dort, wo seine Augen waren. Ihn beschlich ein dumpfer Verdacht. Warum hatte seine Schwester Fergus zu dieser seltsamen Stunde geschickt.
Wenn es nötig gewesen wäre, ihn dringend vor den Dragonern zu warnen, wäre es ungefährlicher gewesen, den Jungen in der Nacht auf den Hügel zu schicken. Wenn es nicht dringend war, warum nicht bis zum nächsten Abend warten? Die Antwort darauf lag auf der Hand – weil Jenny glaubte, ihm am nächsten Abend vielleicht keine Nachricht schicken zu können.
»Wie geht es meiner Schwester?«, fragte er Fergus.
»Oh, gut, Milord, sehr gut!« Der fröhliche Ton, mit dem ihm der Junge das versicherte, bestätigte Jamie in seinem Verdacht.
»Sie bekommt das Kind, nicht wahr?«, wollte er wissen.
»Nein, Milord! Ganz gewiss nicht!«
Jamie streckte die Hand aus und legte sie um Fergus’ Schulter. Die Knochen unter seinen Fingern fühlten sich klein und zerbrechlich an und erinnerten ihn unangenehm an die Kaninchen, die er für Jenny zerlegt hatte. Dennoch zwang er sich, fester zuzupacken. Fergus versuchte, sich ihm zu entwinden.
»Sag mir die Wahrheit, Mann«, sagte Jamie.
»Nein, Milord! Wirklich!«
Der Griff wurde unausweichlich fester. »Hat sie dir verboten, es mir zu erzählen?«
Jennys Drohung musste drastisch gewesen sein, denn Fergus beantwortete diese Frage mit sichtlicher Erleichterung.
»Ja, Milord!«
»Ah.« Er entspannte seine Hand, und Fergus sprang auf. Er redete wie ein Wasserfall, während er sich die hagere Schulter rieb.
»Sie hat gesagt, ich darf Euch nur von den Soldaten erzählen, sonst nichts, Milord, denn wenn ich es täte, würde sie mir die Klöten abschneiden und sie kochen wie Rübchen mit Wurst!«
Jamie konnte sich ein Lächeln über diese Drohung nicht verkneifen.
»Es mag ja sein, dass uns die Vorräte knapp werden«, versicherte er seinem Schützling, »aber nicht so knapp.« Er blickte zum Horizont, wo inzwischen ein schmaler rötlicher Streifen deutlich hinter der Silhouette der schwarzen Kiefern aufleuchtete. »Dann komm; in einer halben Stunde ist es hell.«
An diesem Morgen war das Haus alles andere als still und leer. Jeder, der nicht völlig blind war, konnte sehen, dass die Dinge in Lallybroch nicht so waren wie sonst; der Waschkessel stand voll mit Wasser und nassen Kleidern in seinem Gestell auf dem Hof, und das Feuer darunter war erloschen. Stöhnlaute aus der Scheune – als würde jemand erwürgt – deuteten darauf hin, dass die letzte verbliebene Kuh dringend gemolken werden musste. Gereiztes Meckern aus dem Ziegenstall ließ ihn wissen, dass die weiblichen Insassen ähnliche Zuwendung zu schätzen wissen würden.
Als er auf den Hof kam, rannten drei Hühner als gackernde Federbälle vorüber, dicht gefolgt von Jehu, dem Terrier. Mit einem raschen Satz sprang er vor und trat nach dem Hund, den er genau unter den Rippen erwischte. Mit völlig überraschter Miene flog er in die Luft, dann landete er jaulend am Boden, rappelte sich auf und machte sich davon.
Die Kinder, die älteren Jungen, Mary MacNab und das andere Hausmädchen, Sukie, fand er dicht umeinandergedrängt in der guten Stube, wo sie von Mrs. Kirby beaufsichtigt wurden, einer gestrengen Witwe, die ihnen aus der Bibel vorlas.
»›Und Adam ward nicht verführt; das Weib aber ward verführt und schuldig der Übertretung …‹«, las Mrs. Kirby. Im oberen Stockwerk erscholl ein lauter, langgezogener Schrei, der nicht enden zu wollen schien. Mrs. Kirby hielt einen Moment inne, damit jeder diesen zur Kenntnis nehmen konnte, ehe sie weiterlas. Ihre Augen, blassgrau und feucht wie rohe Austern, huschten zur Decke, dann hefteten sie sich voller Genugtuung auf die Reihe der angespannten Gesichter, die sie vor sich hatte.
»›Sie wird aber selig werden im Austragen der Kinder, so sie denn züchtig verharret im Glauben, in der Tugend und der Heiligkeit‹«, las sie. Kitty brach in hysterisches Schluchzen aus und vergrub den Kopf an der Schulter ihrer Schwester. Maggie Ellen lief unter ihren Sommersprossen leuchtend rot an, während ihr älterer Bruder bei dem Schrei leichenblass geworden war.
»Mrs. Kirby«, sagte Jamie. »Bitte seid still.«
Der Ton war zwar höflich, doch der Ausdruck seiner Augen musste derselbe gewesen sein, dem sich Jehu gegenübergesehen hatte, ehe er mit Hilfe von Jamies Stiefel fliegen ging, denn Mrs. Kirby schnappte erschrocken nach Luft und ließ die Bibel fallen, die mit einem papiernen Geräusch auf dem Boden landete.
Jamie bückte sich und hob das Büchlein auf, dann zeigte er Mrs. Kirby die Zähne. Als Lächeln war dies offenbar nicht erfolgreich, doch es blieb auch nicht ohne Wirkung. Mrs. Kirby verlor jede Farbe und hob die Hand an ihren ausladenden Busen.
»Vielleicht würdet Ihr in die Küche gehen und Euch nützlich machen«, sagte er mit einem Ruck seines Kopfes, der Sukie, die Küchenmagd, wie ein vom Wind verwehtes Blatt aus dem Zimmer flattern ließ. Deutlich würdevoller, aber ebenfalls ohne jedes Zögern erhob sich Mrs. Kirby und folgte ihr.
Durch diesen kleinen Sieg ermutigt, verteilte Jamie nacheinander auch die anderen Insassen der guten Stube, indem er die Witwe Murray und ihre Töchter hinaus zum Waschkessel schickte und die kleineren Kinder auf den Hof, damit sie unter Mary MacNabs Aufsicht die Hühner einfingen. Die größeren Jungen gingen unübersehbar erleichtert davon, um sich um das Vieh zu kümmern.
Als das Zimmer schließlich leer war, blieb er einen Moment stehen, unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Ein obskures Gefühl drängte ihn, im Haus zu bleiben und Wache zu halten, obwohl ihm absolut bewusst war, dass er – genau wie Jenny gesagt hatte – nichts tun konnte, um zu helfen, was auch immer geschah. Auf dem Hof stand ein Maultier, das er nicht kannte; vermutlich war die Hebamme oben bei Jenny.
Da er nicht stillsitzen konnte, wanderte er rastlos durch das Zimmer, die Bibel in der Hand, und berührte Gegenstände und Möbel. Jennys Bücherregal, das die Narben des letzten Eindringens der Rotröcke vor drei Monaten trug. Der große silberne Tafelaufsatz. Er hatte zwar ein paar Dellen, doch man hatte ihn für zu schwer befunden, um in den Rucksack eines Soldaten zu passen, und so war er dem Schicksal der kleineren Gegenstände entgangen, die zur Diebesbeute geworden waren. Nicht, dass die Engländer viel abbekommen hatten; die wenigen wirklich wertvollen Gegenstände waren zusammen mit dem Rest ihres kleinen Goldvorrats und Jareds Wein sicher im Priesterloch versteckt.
Er hörte gedehntes Stöhnen von oben und warf unwillkürlich einen Blick auf die Bibel in seiner Hand. Ohne es eigentlich zu wollen, ließ er das Buch aufklappen, so dass die Seite am Anfang erschien, auf der die Eheschließungen, Geburten und Todesfälle der Familie notiert waren.