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»Danke, Fiona«, sagte er. »Ich habe mich aber auch gefragt, ob du vielleicht einen großen blauen Umschlag gesehen hast – ziemlich dick, ungefähr so?« Er deutete die Maße mit den Händen an. »Er ist mit der Morgenpost gekommen, aber ich habe ihn verlegt.«

»Du hast ihn oben im Bad liegengelassen«, sagte sie prompt. »Da liegt auch das große Buch mit der Goldschrift und dem Bild des Bonnie Prince auf dem Titel und drei Briefe, die du gerade aufgemacht hattest, und dann noch die Gasrechnung, die du bitte nicht vergessen darfst, sie ist am Vierzehnten fällig. Ich habe es alles oben auf den Geyser gelegt, damit es nicht im Weg ist.« Die Zeituhr des Ofens erscholl mit einem leisen scharfen Ding!, und mit einem unterdrückten Ausruf zog Fiona abrupt den Kopf ein.

Roger wandte sich um und ging lächelnd die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Hätte Fiona andere Interessen gehabt, hätte ihr Gedächtnis sie zur Wissenschaftlerin machen können. Auch so war sie keine schlechte Forschungsassistentin. Solange sich ein bestimmtes Dokument oder Buch anhand seines Aussehens beschreiben ließ, nicht seines Titels oder Inhalts, wusste Fiona mit Verlass, wo genau es sich befand.

»Och, das ist doch nicht schlimm«, hatte sie Roger unbekümmert beruhigt, als er sich für das Durcheinander entschuldigte, das er im Haus anrichtete. »Fast könnte man meinen, der Reverend würde noch leben, mit all diesen Papieren, die überall verstreut sind. Wie in alten Zeiten, was?«

Als er mit dem blauen Umschlag in den Händen langsamer wieder nach unten ging, fragte er sich, was sein verstorbener Adoptivvater wohl von seiner gegenwärtigen Spurensuche gehalten hätte.

»Hätte mich nicht gewundert, wenn er sich selbst darauf gestürzt hätte«, murmelte er vor sich hin. Er sah den Reverend lebhaft vor sich, dessen Glatze unter den altmodischen Schalen der Hängelampen im Flur geglänzt hatte, während er vom Studierzimmer in die Küche schlurfte, wo die alte Mrs. Graham, Fionas Großmutter, den Herd bemannte und sich bei nächtlichen Anwandlungen wissenschaftlichen Forscherdrangs um die körperlichen Bedürfnisse des alten Mannes gekümmert hatte, so wie Fiona es jetzt für ihn tat.

Man kam ins Grübeln, dachte er, als er ins Studierzimmer ging. Wenn in alter Zeit der Sohn eines Mannes für gewöhnlich den Beruf seines Vaters ergriff, war das nur Zweckmäßigkeit – weil man das Geschäft in der Familie halten wollte –, oder gab es eine erbliche Neigung für bestimmte Arten von Arbeit? Waren manche Menschen tatsächlich dafür geboren, Schmiede zu werden oder Kaufleute oder Köche – kamen sie mit einer bestimmten Neigung und einem bestimmten Talent auf die Welt und wuchsen nicht nur in die Gelegenheit hinein?

Das traf eindeutig nicht auf jeden zu; es gab immer Menschen, die von zu Hause fortgingen, auf Wanderschaft gingen, Dinge taten, die bis dahin im Kreis ihrer Familien nicht vorgekommen waren. Wenn das nicht so wäre, gäbe es vermutlich keine Erfinder oder Entdecker; dennoch schien es in manchen Familien einen gewissen Hang zu bestimmten Berufen zu geben, selbst in diesen unruhigen modernen Zeiten der weitverbreiteten Bildung und des problemlosen Reisens.

Worum es ihm bei dieser Frage eigentlich ging, dachte er, das war Brianna. Er beobachtete Claire, die den golden gesträhnten Lockenkopf über den Schreibtisch gebeugt hatte, und ertappte sich bei der Frage, wie viel Brianna wohl von ihr hatte und wie viel von dem mysteriösen Schotten – Krieger, Bauer, Höfling, Gutsherr –, der ihr Vater gewesen war?

Seine Gedanken waren immer noch in dieser Richtung unterwegs, als Claire eine Viertelstunde später den letzten Ordner schloss und sich seufzend zurücklehnte.

»Verrätst du mir, was du denkst?«, fragte sie und griff nach ihrem Getränk.

»Nichts Besonderes«, erwiderte Roger lächelnd und tauchte aus seinen Gedanken auf. »Ich habe mich nur gefragt, wie es kommt, dass die Menschen werden, was sie sind. Wie ist es zum Beispiel gekommen, dass du Ärztin geworden bist?«

»Wie es gekommen ist, dass ich Ärztin geworden bin?« Claire atmete den Dampf ihres Kakaos ein, beschloss, dass er zu heiß zum Trinken war, und stellte die Tasse wieder auf den Tisch zwischen die verstreuten Bücher und Kladden und Zettel mit Notizen. Sie sah Roger mit einem halben Lächeln an und rieb die Hände aneinander, um die Wärme der Tasse zu verteilen.

»Wie ist es denn gekommen, dass du Historiker geworden bist?«

»Mehr oder weniger selbstverständlich«, antwortete er. Er lehnte sich im Sessel des Reverends zurück und wies mit einer Handbewegung auf das Sammelsurium von Papieren und Gegenständen rings um sie herum. Er tätschelte eine kleine Reiseuhr aus Messing, die auf dem Schreibtisch stand, ein elegantes Stück Handwerkskunst aus dem achtzehnten Jahrhundert mit winzigen Glöckchen, die die volle Stunde, die Viertel- und die halbe Stunde schlugen.

»Ich bin damit groß geworden; ich konnte kaum lesen, als ich schon mit meinem Vater in den Highlands auf der Suche nach antiken Gegenständen unterwegs war. Vermutlich kam es mir ganz normal vor, damit weiterzumachen. Aber du?«

Sie nickte und reckte sich, um ihre Schultern zu entspannen, die stundenlang über den Schreibtisch gebeugt gewesen waren. Brianna, die sich nicht mehr wach halten konnte, hatte vor einer Stunde aufgegeben und war ins Bett gegangen, aber Claire und Roger hatten ihre Suche in den Verwaltungsdokumenten britischer Gefängnisse fortgesetzt.

»Nun, bei mir war es so ähnlich«, sagte sie. »Es war eigentlich nicht so, dass ich plötzlich beschlossen habe, Ärztin werden zu müssen – es war nur so, dass ich eines Tages plötzlich begriffen habe, dass ich lange eine gewesen war … und als ich es dann nicht mehr war, hat es mir gefehlt.«

Sie breitete die Hände auf dem Schreibtisch aus und bewegte ihre langen, geschmeidigen Finger mit den zu ordentlichen, schimmernden Ovalen gefeilten Nägeln.

»Es gab da dieses alte Lied aus dem Ersten Weltkrieg«, sagte sie nachdenklich. »Ich habe es manchmal gehört, wenn Onkel Lambs alte Armeekameraden zu Besuch kamen und dann lange aufblieben und sich betrunken haben. Darin wurde gefragt, wie man sich wieder an den Alltag gewöhnen kann, nachdem man Paris gesehen hat?« Sie sang die erste Zeile und brach dann ironisch lächelnd ab.

»Ich hatte Paris gesehen«, sagte sie leise. Sie hob den Blick von ihren Händen, hellwach und geistesgegenwärtig, doch mit den Spuren der Erinnerung in den Augen, die sich mit einer Klarheit auf Roger hefteten, als besäßen sie das zweite Gesicht. »Und noch einiges mehr. Caen und Amiens, Preston und Falkirk, das Hôpital des Anges und das sogenannte Behandlungszimmer in Leoch. Ich war Ärztin gewesen, auf jede denkbare Weise – ich hatte Babys zur Welt gebracht, Knochen gerichtet, Wunden genäht, Fieber behandelt …« Sie verstummte und zuckte mit den Schultern. »Natürlich gab es furchtbar viel, was ich nicht wusste. Ich wusste, wie viel ich lernen konnte – und deshalb habe ich die Ausbildung gemacht. Aber das hat im Grunde nicht viel geändert.« Sie tauchte den Finger in die Schlagsahne auf ihrem Kakao und leckte ihn ab. »Ich habe ein Zeugnis und eine Lizenz – aber ich war schon Ärztin, ehe ich zum ersten Mal den Fuß in ein Lehrkrankenhaus gesetzt habe.«

»Das kann doch unmöglich so einfach gewesen sein, wie es sich anhört.« Roger pustete in seinen Kakao und betrachtete Claire mit unverhohlener Neugier. »Es gab doch damals nicht viele Frauen in Ärztekreisen – es gibt ja selbst heute nicht so viele Ärztinnen –, und außerdem hattest du Familie.«

»Nein, ich kann nicht sagen, dass es irgendwie einfach war.« Claire sah ihn belustigt an. »Ich habe natürlich gewartet, bis Brianna in der Schule war und wir uns Hilfe im Haushalt leisten konnten – aber …« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte ironisch. »Ich habe mir für ein paar Jahre das Schlafen abgewöhnt. Das hat ein bisschen geholfen. Und seltsamerweise hat Frank auch mitgeholfen.«