»Mrs. Abernathy?« Ich hielt inne, dann fragte ich vorsichtig: »Äh … was habt Ihr von ihr gehalten?«
»Oh … eine sehr angenehme Dame; äußerst … großzügig.«
In der Dunkelheit konnte ich zwar sein Gesicht nicht sehen, doch seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton – halb selbstzufrieden, halb verlegen –, der mir verriet, dass er die Witwe Abernathy tatsächlich äußerst attraktiv gefunden hatte. Woraus ich schloss, dass Geilie etwas von dem Naturalisten gewollt hatte; ich hatte noch nie erlebt, dass sie Aufmerksamkeit für einen Mann übriggehabt hätte, es sei denn, sie versprach sich etwas davon.
»Wo seid Ihr ihr denn begegnet? Bei ihr zu Hause?« Nach allem, was die Gäste auf dem Ball des Gouverneurs erzählt hatten, verließ Mrs. Abernathy ihre Plantage nur selten oder nie.
»Ja, in Rose Hall. Ich hatte sie aufgesucht, um sie um die Erlaubnis zu bitten, einen seltenen Käfer zu sammeln – einen Rüsselkäfer –, den ich an einer Quelle auf der Plantage gefunden hatte. Sie hat mich ins Haus gebeten und … mich herzlich empfangen.« Diesmal war es definitiv ein Unterton der Genugtuung. Jamie, der neben mir das Ruder bediente, hörte es und prustete.
»Was wollte sie denn von Euch?«, fragte er, da er zweifellos zu demselben Schluss über Geilies Verhalten und ihre Motive gekommen war wie ich.
»Oh, sie hat sich auf sehr erfreuliche Weise für die Tiere und Pflanzen interessiert, die ich auf der Insel gesammelt hatte; sie hat mich nach den Fundorten und den Heilkräften diverser Kräuter gefragt. Ah, und nach anderen Orten, die ich besucht hatte. Vor allem hat sie sich für meine Berichte aus Hispaniola interessiert.« Er seufzte, weil ihn Bedauern überkam. »Es ist schwer zu glauben, dass eine derart wunderbare Frau die verabscheuungswürdigen Dinge begangen haben soll, von denen Ihr berichtet, James.«
»Wunderbar, aye?« Jamies Ton war ebenso trocken wie belustigt. »Ein bisschen von Amors Pfeil getroffen, wie, Lawrence?«
Auch in Lawrence’ Ton klang ein Lächeln mit. »Ich habe einmal eine fleischfressende Fliege beobachtet, Freund James. Wenn sich die männliche Fliege entschließt, ein Weibchen zu umwerben, achtet er darauf, dass er ihr ein Stückchen Fleisch oder andere Beute mitbringt, die er hübsch in Seide verpackt. Während das Weibchen damit beschäftigt ist, den Leckerbissen auszuwickeln, bespringt er sie, geht seinen ehelichen Pflichten nach und sieht zu, dass er dann das Weite sucht. Denn wenn sie ihre Mahlzeit beendet, ehe er selber fertig ist, oder er so achtlos ist, sie ohne ein leckeres Geschenk aufzusuchen … frisst sie ihn.« Leises Lachen erklang in der Dunkelheit. »Nein, es war eine interessante Erfahrung, aber ich glaube, ich werde Mrs. Abernathy nicht noch einmal besuchen.«
»Nicht, wenn wir Glück haben, nein«, pflichtete ihm Jamie bei.
Die Männer ließen mich am Flussufer zurück, um das Boot zu hüten, und verschwanden in der Dunkelheit, nachdem Jamie mich angewiesen hatte, mich nicht vom Fleck zu bewegen. Ich hatte eine geladene Pistole, die mir mit der strengen Anweisung übergeben worden war, mir nicht in den Fuß zu schießen. Ihr Gewicht wirkte zwar beruhigend, doch je mehr Minuten in der schwarzen Stille verstrichen, desto bedrückender fand ich die Dunkelheit und das Alleinsein.
Von hier aus konnte ich das Haus sehen, ein dunkles Rechteck, in dem nur die unteren drei Fenster erleuchtet waren; das musste der Salon sein, dachte ich und fragte mich, warum bei den Sklaven alles ruhig zu sein schien. Dann sah ich einen Schatten hinter einem der erleuchteten Fenster vorübergehen, und das Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals.
Bei aller Fantasie, es war nicht Geilies Schatten. Die Gestalt war hochgewachsen, dünn, schlaksig und hager.
Ich blickte mich hektisch um und hätte am liebsten gerufen, doch es war zu spät. Die Männer befanden sich längst auf dem Weg zur Raffinerie; sie waren alle außer Hörweite. Ich zögerte einen Moment, doch mir blieb wirklich nichts anderes übrig. Ich raffte meine Röcke und schritt in die Dunkelheit.
Als ich die Veranda erreichte, war ich nassgeschwitzt, und mein Herz schlug so laut, dass es alle anderen Geräusche übertönte. Lautlos schlich ich mich zum nächstgelegenen Fenster und versuchte hineinzublicken, ohne von innen gesehen zu werden.
Im Inneren war alles still und aufgeräumt. Ein kleines Feuer brannte im Kamin, und der Schein der Flammen spiegelte sich auf dem glänzenden Holzfußboden. Geilies Rosenholz-Sekretär war aufgeklappt, die Schreibtischplatte mit haufenweise handschriftlichen Papieren und mit Büchern übersät, die sehr alt aussahen. Ich konnte zwar niemanden sehen, aber ich hatte auch nicht das gesamte Zimmer im Blick.
Ich musste an Hercule mit den toten Augen denken, und bei der Vorstellung, wie er sich im Dunklen an mich heranschlich, überlief mich ein Kribbeln. Ich schlich auf der Veranda weiter und sah mich bei jedem zweiten Schritt um.
Die ganze Plantage wirkte heute Abend verlassen. Von den gedämpften Sklavenstimmen meines ersten Besuchs war nichts zu hören. Doch ich redete mir ein, dass das nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte. Die meisten Sklaven legten vermutlich bei Sonnenuntergang die Arbeit nieder und begaben sich in ihre Quartiere. Dennoch, sollte es im Haus nicht Bedienstete geben, die sich um das Feuer kümmerten und Essen aus der Küche holten?
Die Eingangstür stand offen. Auf der Schwelle lagen Blütenblätter der gelben Rose, die im schwachen Licht des Korridors wie antike Goldmünzen leuchteten.
Ich blieb stehen und lauschte. Ich glaubte, es im Salon leise rascheln zu hören, als blätterte jemand in einem Buch, aber ich war mir nicht sicher. Ich nahm meinen Mut zusammen und schritt über die Schwelle.
Im Inneren war der Eindruck von Verlassenheit noch ausgeprägter. Überall sah ich unmissverständliche Spuren der Vernachlässigung; eine Vase mit verwelkten Blumen auf der glatten Oberfläche einer Truhe, eine Teetasse nebst Untertasse, die auf einem Beistelltischchen stehen geblieben war und auf deren Boden der Teesatz zu einem braunen Fleck getrocknet war. Wo zum Teufel waren alle?
An der Tür zum Salon blieb ich stehen und lauschte erneut. Ich hörte das leise Knistern des Feuers und dann erneut dieses leise Rascheln, als würde in einem Buch geblättert. Ich steckte den Kopf um die Ecke und konnte sehen, dass jetzt jemand vor dem Sekretär Platz genommen hatte. Jemand, der unleugbar männlich war, hochgewachsen und schmal, und der den Kopf über etwas gebeugt hatte.
»Ian!«, zischte ich, so laut ich es wagte. »Ian!«
Die Gestalt fuhr zusammen, schob den Stuhl zurück, erhob sich hastig und blinzelte ins Zwielicht.
»Himmel!«, sagte ich.
»Mrs. Malcolm?«, sagte Reverend Archibald Campbell erstaunt.
Ich versuchte, den Schreck hinunterzuschlucken, der mir in der Kehle saß. Der Reverend sah zwar genauso verblüfft aus, wie ich es war, doch es dauerte nur eine Sekunde. Dann verhärteten sich seine Züge, und er kam einen Schritt auf die Tür zu.
»Was macht Ihr denn hier?«, wollte er wissen.
»Ich bin auf der Suche nach dem Neffen meines Mannes«, sagte ich. Es hatte keinen Zweck zu lügen, und vielleicht wusste er sogar, wo Ian war. Ich blickte mich hastig im Zimmer um, doch es war leer bis auf den Reverend und unbenutzt bis auf seine kleine Lampe. »Wo ist Mrs. Abernathy?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte er und runzelte die Stirn. »Sie scheint fort zu sein. Wie meint Ihr das, den Neffen Eures Mannes?«
»Fort?« Ich blinzelte ihn an. »Wo ist sie hin?«
»Ich weiß es nicht.« Er zog ein finsteres Gesicht und klemmte die Oberlippe wie einen Schnabel über seine Unterlippe. »Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war sie fort – genau wie anscheinend all ihre Bediensteten. Eine schöne Art, mit einem eingeladenen Gast umzugehen!«
Obwohl ich alarmiert war, entspannte ich mich ein wenig. Immerhin lief ich nicht Gefahr, Geilie zu begegnen. Mit Reverend Campbell würde ich vermutlich fertig werden.