»Wer hat Fragen?«
Wie als Antwort wankte eine junge Frau mit einem Turban halb benommen aus der Menge hervor und sank vor dem Podest zu Boden. Sie legte die Hand auf eine der Holzfiguren, eine grobe Darstellung einer schwangeren Frau.
Ihre Augen hoben sich hoffnungsvoll, und ich verstand zwar ihre Worte nicht, doch es war klar, wonach sie fragte.
»Aya, gado«, erklang eine Stimme an meiner Seite, doch es war nicht Margaret Campbells Stimme. Es war die Stimme einer alten Frau, brüchig und hoch, aber selbstsicher in ihrer bejahenden Antwort.
Die junge Frau keuchte auf vor Glück und warf sich der Länge nach auf den Boden. Ishmael stieß sie sacht mit dem Fuß an, und sie erhob sich hastig und kehrte in die Menge zurück. Nickend umklammerte sie die kleine Figur und murmelte »mana, mana« vor sich hin.
Als Nächstes kam ein junger Mann, dem Gesicht nach der Bruder der jungen Frau. Er ging respektvoll in die Hocke und hob die Hand an den Kopf, ehe er sprach.
»Grandmère«, begann er in hohem, näselndem Französisch. Großmutter?, dachte ich.
Während er seine Frage stellte, hielt er den Blick schüchtern zu Boden gerichtet. »Die Frau, die ich liebe – erwidert sie meine Liebe?« Von ihm stammte der Jasminzweig, mit dem er jetzt die Oberseite seines nackten, staubigen Fußes streifte.
Die Frau an meiner Seite lachte, und ihre betagte Stimme klang ironisch, aber nicht unfreundlich. »Certainement«, sagte sie. »Die deine und die Liebe drei weiterer Männer. Such dir eine andere, die weniger großzügig und dafür deiner Liebe würdig ist.«
Der junge Mann zog sich geknickt zurück, um einem älteren Platz zu machen. Dieser sprach eine afrikanische Sprache, die ich nicht kannte, und seine Stimme hatte einen bitteren Unterton, als er eine der kleinen Figuren berührte.
»Setato hoye«, sagte … wer? Wieder war die Stimme anders. Eine Männerstimme diesmal, erwachsen, aber noch nicht alt, und sie antwortete wütend in derselben Sprache.
Ich warf einen verstohlenen Blick zur Seite und spürte, wie es mir trotz der Hitze des Feuers kalt über die Arme lief. Es war nicht mehr Margarets Gesicht. Seine Konturen waren zwar unverändert, doch die Augen waren leuchtend, hellwach und konzentriert auf den Bittsteller gerichtet. Der Mund war zu gebieterischem Ingrimm verzogen, und ihr heller Hals war angeschwollen wie die Kehle eines Froschs, so sehr strengte sie der kräftige Ton der Auseinandersetzung mit dem Mann vor der Plattform an.
»Sie sind hier«, hatte Ishmael gesagt. »Sie«, in der Tat. Schweigend, aber wachsam stand er am Rand, und ich sah, wie sein Blick eine Sekunde auf mir ruhte, ehe er sich wieder auf Margaret richtete. Oder auf das, was Margaret gewesen war.
»Sie.« Einer nach dem anderen traten sie vor, um kniend ihre Fragen zu stellen. Manche sprachen Englisch, manche Französisch oder den Dialekt der Sklaven, manche die afrikanischen Sprachen ihrer verlorenen Heimat. Ich konnte nicht alles verstehen, was gesagt wurde, doch wenn die Fragen auf Französisch oder Englisch gestellt wurden, ging ihnen oft ein respektvolles »Großvater« oder »Großmutter« voraus, einmal auch »Tante«.
Das Orakel an meiner Seite änderte sowohl sein Gesicht als auch die Stimme, wenn »sie« gerufen wurden und kamen, um zu antworten; Männer und Frauen, meistens in den mittleren Jahren oder alt, und ihre Schatten tanzten mit dem Flackern des Feuers in ihrem Gesicht.
Geht es Euch nicht auch manchmal so, dass Ihr das Gefühl habt, in den Flammen Dinge zu sehen?, erklang ihr eigenes Stimmchen leise und kindisch in meinem Kopf.
Während ich lauschte, spürte ich, wie sich meine Nackenhaare sträubten, und jetzt begriff ich, was Ishmael an diesen Ort zurückgeführt hatte, an dem er Gefahr lief, wieder eingefangen und erneut versklavt zu werden. Weder Freundschaft noch Liebe und auch nicht die Verbundenheit mit seinen Sklavenbrüdern, sondern Macht.
Welchen Preis ist die Macht wert, die Zukunft vorherzusagen? Jeden Preis, war die Antwort, die mir aus den hingerissenen Gesichtern der Versammlung entgegenblickte. Er war Margarets wegen zurückgekehrt.
Es ging noch eine ganze Weile weiter. Ich wusste nicht, wie lange die Droge wirkte, doch hier und da sah ich vereinzelte Menschen zu Boden sinken und einschlafen; andere zogen sich lautlos in die Dunkelheit der Hütten zurück, und nach einer Weile waren wir fast allein. Nur einige Sklaven, alles Männer, blieben noch am Feuer zurück.
Sie waren kräftig und wirkten selbstsicher, und ihrer Haltung nach waren sie es gewohnt, dass man ihnen mit Respekt begegnete – zumindest die Sklaven. Sie hatten sich als Gruppe im Hintergrund gehalten und die Vorgänge beobachtet, bis nun einer, eindeutig der Anführer, vortrat.
»Sie sind fertig, Mann«, sagte er zu Ishmael und wies mit einem Ruck seines Kopfes auf die schlafenden Gestalten am Feuer. »Jetzt fragst du.«
In Ishmaels Gesicht zuckte zwar höchstens ein kleines Lächeln, doch er schien plötzlich nervös zu sein. Vielleicht war es die Nähe der anderen Männer. Sie strahlten zwar eigentlich nichts Bedrohliches aus, nur Ernst und Konzentration – und zwar zur Abwechslung nicht auf Margaret, sondern auf Ishmael.
Schließlich nickte er und wandte sich Margaret zu. Während der Pause hatte ihr Gesicht jeden Ausdruck verloren; niemand zu Hause.
»Bouassa«, sagte er zu ihr. »Komm, Bouassa.«
Ich wich unwillkürlich auf der Bank zurück, soweit es möglich war, ohne dass ich ins Feuer fiel. Wer auch immer Bouassa war, er war prompt eingetroffen.
»Ich höre.« Die Stimme war so tief wie Ishmaels Stimme, und sie hätte auch genauso angenehm klingen sollen. Sie tat es nicht. Einer der Männer trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
Ishmael stand allein da; die anderen Männer schienen vor ihm zurückzuweichen, als wäre er ansteckend.
»Sag mir, was ich wissen will, Bouassa«, sagte er.
Margarets Kopf neigte sich ein wenig, und in ihren blassblauen Augen leuchtete Belustigung auf.
»Was willst du denn wissen?«, sagte die tiefe Stimme mit einem Hauch von Verachtung. »Und warum, Mann? Du wirst gehen, egal, was ich sage.«
Ishmaels kleines Lächeln spiegelte das Lächeln in Bouassas Gesicht.
»Das ist wahr«, sagte er leise. »Aber sie …« Er wies mit einem Ruck seines Kopfes auf seine Begleiter, ohne den Blick von dem Gesicht abzuwenden. »Gehen sie mit?«
»Sollen sie doch«, sagte die tiefe Stimme. Sie gluckste ziemlich unangenehm. »Die Made stirbt in drei Tagen. Ist dann nichts mehr hier für sie. Das alles, was du von mir willst?« Ohne eine Antwort abzuwarten, gähnte Bouassa herzhaft, und aus Margarets zartem Mund drang ein lauter Rülpser.
Ihr Mund schloss sich, und ihre Augen starrten wieder ins Leere, doch die Männer beachteten es nicht. Aufgeregtes Getuschel brach unter ihnen aus, zum Schweigen gebracht von Ishmael, der einen vielsagenden Blick in meine Richtung warf. Plötzlich verstummt, entfernten sie sich, nicht ohne mir im Gehen hastige Blicke zuzuwerfen.
Ishmael schloss die Augen, als der letzte Mann die Lichtung verließ, und er ließ die Schultern hängen. Ich fühlte mich selbst ein wenig ausgelaugt.
»Was …«, begann ich, dann hielt ich inne. Jenseits des Feuers war ein Mann aus dem Schutz des Feldes getreten. Jamie, hochgewachsen wie das Zuckerrohr, und das erlöschende Feuer färbte ihm das Hemd und das Gesicht so rot wie sein Haar.
Er hob einen Finger an seine Lippen, und ich nickte und machte mich zum Aufstehen bereit. Ich konnte am Feuer vorüber sein und mit ihm in das Feld flüchten, ehe mich Ishmael zu fassen bekam. Aber Margaret?
Ich zögerte, wandte mich zu ihr um und sah, dass ihr Gesicht erneut zum Leben erwacht war. Mit hocherhobenem Kopf blickte sie über das Feuer hinweg; ihre Lippen teilten sich freudig, und ihre glänzenden Augen waren zusammengekniffen, so dass sie leicht schräg zu stehen schienen.
»Papa?«, sagte Briannas Stimme an meiner Seite.
Die Haare auf meinen Unterarmen richteten sich in sanften Wellen auf. Es war Briannas Stimme, Briannas Gesicht, die dunkelblauen Katzenaugen voller Sehnsucht.