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Roger prüfte seine Tasse und fand sie beinahe genug abgekühlt zum Trinken. Er hielt sie in den Händen und genoss das Gefühl der Wärme, die durch das dicke weiße Porzellan in seine Handflächen strömte. Es mochte ja Anfang Juni sein, aber die Nächte waren immer noch so kalt, dass sie nicht ohne den Radiator auskamen.

»Tatsächlich?«, sagte er neugierig. »Nach dem, was du bis jetzt von ihm erzählt hast, hätte ich nicht gedacht, dass es ihm gefallen hätte, wenn du eine Ausbildung machst oder Ärztin bist.«

»Es hat ihm auch nicht gefallen.« Ihre Lippen pressten sich fest aufeinander; die Bewegung verriet Roger mehr als Worte, denn sie zeugte von erbitterten Diskussionen, von abgebrochenen Gesprächen, von hartnäckiger, subtiler Verhinderungstaktik statt offener Missbilligung.

Was für ein bemerkenswert ausdrucksvolles Gesicht sie hatte, dachte er, während er sie beobachtete. Ganz plötzlich fragte er sich, ob das seine genauso leicht zu lesen war. Der Gedanke war so verstörend, dass er sein Gesicht in die Tasse steckte und den Kakao schluckte, obwohl er immer noch etwas zu heiß war.

Als er aus der Tasse auftauchte, beobachtete ihn Claire mit etwas sardonischer Miene.

»Warum?«, fragte er schnell, um sie abzulenken. »Was hat ihn bewogen, seine Meinung zu ändern?«

»Brianna«, sagte sie, und ihre Miene wurde weich, wie immer, wenn der Name ihrer Tochter fiel. »Brianna war das Einzige, was Frank wirklich wichtig war.«

Wie schon gesagt, hatte ich gewartet, bis Brianna in die Schule kam, ehe ich meine medizinische Ausbildung begann. Doch auch so klaffte zwischen ihrem Schulschluss und meinem Feierabend eine große Lücke, die wir aufs Geratewohl mit einer Reihe mehr oder minder kompetenter Haushälterinnen und Babysitterinnen füllten, manche mehr, die meisten von ihnen minder.

Meine Erinnerung kehrte zu dem beängstigenden Tag zurück, an dem mich im Krankenhaus ein Anruf erreichte, der mir mitteilte, dass sich Brianna verletzt hatte. Ich war aus dem Gebäude geschossen, ohne auch nur meinen grünen OP-Anzug abzulegen, und war unter Missachtung sämtlicher Geschwindigkeitsbegrenzungen nach Hause gerast, wo ich ein Polizeiauto und einen Rettungswagen vorfand, der blutrot in der Nacht pulsierte – und eine Gruppe von Nachbarn, die sich draußen auf der Straße drängten.

So, wie wir die Geschichte hinterher zusammenpuzzelten, war Folgendes geschehen: Weil sich die aktuelle Babysitterin darüber ärgerte, dass ich erneut spät dran war, hatte sie einfach zur vereinbarten Zeit ihren Mantel angezogen und war gegangen. Die siebenjährige Brianna hatte sie mit der Anweisung zurückgelassen, »auf Mami zu warten«. Das hatte die Kleine auch gehorsam getan, etwa eine Stunde lang. Doch als es allmählich dunkel wurde, hatte sie allein im Haus Angst bekommen und beschlossen, nach draußen zu gehen und mich zu suchen. Bei der Überquerung einer vielbefahrenen Straße in der Nähe unseres Hauses war sie von einem abbiegenden Fahrzeug angefahren worden.

Sie war – Gott sei Dank! – nicht schwer verletzt; das Auto war langsam gefahren, und das Erlebnis hatte nur ein paar blaue Flecken hinterlassen und ihr einen Riesenschreck eingejagt. Doch ihr Schreck war längst nicht so groß wie der meine, als ich ins Wohnzimmer kam, wo sie auf dem Sofa lag und mich ansah und ihr die Tränen erneut über die fleckigen Wangen rannen und sie sagte: »Mami! Wo warst du? Ich konnte dich nicht finden!«

Ich hatte so gut wie all meine Reserven an professioneller Ruhe und Fassung benötigt, um sie zu trösten, sie noch einmal zu untersuchen, ihre Platzwunden und Kratzer frisch zu verbinden, mich bei ihren Rettern zu bedanken – die mich in meiner fiebrigen Einbildung kollektiv anklagend anstarrten – und sie zu Bett zu bringen, ihren rettenden Teddybären in den Armen. Dann setzte ich mich in die Küche und weinte endlich selbst.

Frank tätschelte mich unbeholfen und murmelte auf mich ein, dann gab er es auf und ging Tee kochen, was ihm deutlich besser lag.

»Ich habe mich entschieden«, sagte ich, als er die dampfende Tasse vor mich hinstellte. »Ich kündige. Gleich morgen.«

»Kündigen?« Franks Stimme war scharf vor Erstaunen. »Du gibst deine Ausbildung auf? Warum denn?«

»Ich kann es nicht mehr ertragen.« Ich trank niemals Sahne oder Zucker in meinem Tee. Jetzt gab ich beides in die Tasse, rührte um und sah dem Wirbel der milchigen Schlieren zu. »Ich kann es nicht ertragen, Brianna allein zu lassen, ohne zu wissen, ob sie gut versorgt ist – und mit Sicherheit zu wissen, dass sie unglücklich ist. Du weißt doch, dass sie bis jetzt keine der Babysitterinnen gemocht hat, die wir ausprobiert haben.«

»Ja, das weiß ich.« Er nahm mir gegenüber Platz und rührte ebenfalls in seinem Tee. Einen langen Moment später sagte er: »Aber ich finde nicht, dass du kündigen solltest.«

Es war das Letzte, was ich erwartet hatte; ich hatte gedacht, er würde meine Entscheidung mit erleichtertem Applaus begrüßen. Ich warf ihm einen erstaunten Blick zu, dann putzte ich mir zum wiederholten Mal mit dem Papiertuch aus meiner Tasche die Nase.

»Nicht?«

»Ach, Claire.« Sein Ton war ungeduldig, aber dennoch mit einem Hauch von Zuneigung versetzt. »Du hast immer schon gewusst, wer du bist. Begreifst du denn gar nicht, wie ungewöhnlich es ist, das zu wissen?«

»Nein.« Ich wischte mir mit dem zerfallenden Tuch über die Nase, vorsichtig, damit die Stücke zusammenblieben.

Frank lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah mich kopfschüttelnd an.

»Nein, vermutlich nicht«, sagte er. Eine Minute schwieg er und hielt den Blick auf seine gefalteten Hände gesenkt. Sie waren langfingrig und schmal; glatt und unbehaart wie die einer Frau. Elegante Hände, wie gemacht für beiläufige Gesten und zum Unterstreichen seiner Worte.

Er legte sie ausgestreckt auf den Tisch und betrachtete sie, als hätte er sie noch nie gesehen.

»Ich habe das nicht«, sagte er schließlich leise. »Ich bin gut, das stimmt. Ein guter Lehrer, ein guter Autor. Hin und wieder sogar verdammt exzellent. Und ich habe große Freude an dem, was ich tue. Aber es ist so …« Er zögerte, dann sahen mich seine braungrünen Augen direkt und ernst an. »Ich könnte auch etwas ganz anderes tun und es genauso gut machen. Mich genauso sehr oder genauso wenig dafür interessieren. Mir fehlt diese absolute Überzeugung, dass es etwas im Leben gibt, wozu ich geboren bin – und du besitzt sie.«

»Ist das gut?« Die Ränder meiner Nasenlöcher waren wund, und meine Augen waren verquollen vom Weinen.

Er lachte kurz auf. »Es ist verdammt lästig, Claire. Für dich und mich und Brianna, uns alle drei. Aber mein Gott, manchmal beneide ich dich darum.«

Er streckte die Hand nach der meinen aus, und nach kurzem Zögern überließ ich sie ihm.

»Solche Leidenschaft für etwas zu empfinden«, ein kleines Zucken verzog seinen Mundwinkel, »oder für jemanden. Das ist verdammt toll, Claire, und gottverdammt selten.« Er drückte mir sacht die Hand und ließ sie los, um hinter sich nach einem Buch auf dem Regal neben dem Tisch zu greifen.

Es war eine seiner Quellen, Woodhills »Patrioten«, eine Reihe von Profilen der amerikanischen Gründerväter.

Er legte die Hand auf den Buchumschlag, sanft, als widerstrebte es ihm, die Ruhe der Menschenleben zu stören, die darunter verborgen lagen.

»Das waren solche Menschen. Menschen, die sich ihrer Sache so sehr verschrieben hatten … dass sie alles riskiert haben, dass sie Dinge getan und verändert haben. Die meisten Menschen sind nämlich nicht so. Nicht, weil ihnen nichts am Herzen liegt – aber nicht so sehr.« Wieder nahm er meine Hand, und diesmal drehte er sie um. Ein Finger folgte dem Netz der Linien auf meiner Handfläche und kitzelte mich dabei.

»Ob es wohl hier zu sehen ist?«, sagte er mit einem kleinen Lächeln. »Sind manche Menschen für ein großes Schicksal bestimmt oder zu großen Taten? Oder ist es nur so, dass sie mit dieser großen Leidenschaft geboren werden – und wenn sie auf die richtigen Umstände treffen, dann geschehen die Dinge eben? Solche Fragen stellt man sich, wenn man Geschichte studiert … Aber eigentlich kann man es nicht sagen. Wir wissen nur im Nachhinein, was sie bewerkstelligt haben. Aber, Claire …« In seinen Augen lag etwas Warnendes, und er tippte mit dem Finger auf sein Buch. »Sie haben auch dafür bezahlt«, sagte er.