Ich wusste es. Wenn Geilie noch da war und einer von uns sein Leben aufs Spiel setzen musste, um sie aufzuhalten, dann musste es Jamie sein. Denn wenn Jamie tot war, würde ich übrig bleiben – und ich konnte ihr durch den Stein folgen; er konnte es nicht.
»Ich weiß«, flüsterte ich schließlich. Genauso wusste ich, was er nicht aussprach, auch wenn er es ebenfalls wusste – dass ich, falls Geilie schon gegangen war, ebenfalls gehen musste.
»Dann küss mich, Claire«, flüsterte er schließlich. »Und sei dir gewiss, dass du mir mehr bedeutest als das Leben, und dass ich nichts bedauere.«
Ich konnte nicht antworten, doch ich küsste ihn, erst seine Hand mit ihren warmen, gekrümmten Fingern, das kräftige Handgelenk eines Schwertkämpfers und dann seinen Mund, Zuflucht, Versprechen und Pein zugleich, und er schmeckte nach dem Salz der Tränen.
Dann ließ ich los und wandte mich dem linken Tunnel zu. Innerhalb von zehn Schritten sah ich das Licht.
Es war nicht mehr als ein schwacher Schimmer auf der Felsoberfläche, doch es reichte aus, um mir mein Sehvermögen zurückzugeben. Plötzlich konnte ich meine Hände und Füße sehen, wenn auch nur schwach. Ich atmete beinahe schluchzend auf vor Erleichterung und Angst. Ich fühlte mich wie ein Geist, der Gestalt annimmt, während ich auf das Licht zuging und auf den leisen Glockenton, der vor mir erklang.
Das Licht nahm zu, dann verdunkelte es sich wieder, weil sich Jamie vor mich schob und mir sein Rücken die Sicht versperrte. Dann bückte er sich und trat durch einen niedrigen Durchgang. Ich folgte ihm, und als ich mich aufrichtete, war es hell.
Die Kammer war so groß, dass die Wände, die am weitesten von der Fackel entfernt waren, noch im kalten, schwarzen Schlaf der Höhle schlummerten. Doch die Wand, die vor uns lag, war erwacht. Sie flackerte und glitzerte, weil eingebettete Mineralteilchen die Flammen einer Kiefernfackel reflektierten, die in einer Felsspalte steckte.
»Da seid ihr also, ja?« Geillis kniete auf dem Boden und hatte den Blick auf einen glitzernden Strom aus weißem Pulver geheftet, der ihr aus der Faust rieselte und eine Linie auf den dunklen Boden zeichnete.
Ich hörte Jamies kleinen Laut, halb Erleichterung, halb Grauen, als er Ian sah. Der Junge lag auf der Seite in der Mitte des Pentagramms, die Hände auf dem Rücken gefesselt und mit einem weißen Stoffstreifen geknebelt. Neben ihm lag eine Axt aus einem glänzenden schwarzen Stein wie Obsidian, deren scharfe Kante von kleinen Unebenheiten durchbrochen war. Der Griff war mit bunten Perlen verziert, die zu einem afrikanischen Muster aus Zickzackstreifen verwebt waren.
»Komm nicht näher, Fuchs.« Geilie richtete sich in die Hocke auf und zeigte Jamie die Zähne, doch es war alles andere als ein Lächeln. Sie hielt eine Pistole in der Hand; die zweite steckte geladen und gespannt in dem Ledergürtel, den sie an der Taille trug.
Ohne den Blick von Jamie abzuwenden, griff sie in den Beutel an ihrem Gürtel und holte eine weitere Handvoll Diamantenstaub heraus. Ich konnte die Schweißperlen sehen, die ihr auf der breiten weißen Stirn standen; sie musste das Glockendröhnen der Zeitpassage genauso spüren wie ich. Mir war übel, und unter den Kleidern lief mir der Schweiß in Rinnsalen über den Körper.
Das Muster war beinahe fertig. Während sie sorgfältig mit der Pistole auf Jamie zielte, ließ sie die feine, glänzende Linie auf den Boden rieseln, bis das Pentagramm vollendet war. Die Steine lagen schon im Inneren bereit – sie glitzerten bunt am Boden auf, verbunden durch eine glänzende Spur aus Quecksilber.
»Nun denn.« Mit einem erleichterten Seufzer richtete sie sich erneut in der Hocke auf und strich sich mit einer Hand das dichte blonde Haar aus dem Gesicht. »Gerettet. Der Diamantenstaub schützt vor dem Geräusch«, erklärte sie mir. »Furchtbar, nicht wahr?«
Sie tätschelte Ian, der gefesselt und geknebelt vor ihr auf dem Boden lag und die Augen über dem Knebel vor Angst weit aufgerissen hatte. »Aber, aber, mo chridhe. Keine Angst, es ist gleich vorbei.«
»Nimm die Finger von ihm, du alte Hexe!« Jamie trat impulsiv einen Schritt auf sie zu, die Hand an seinem Dolch, dann blieb er stehen, denn sie hob den Pistolenlauf ein paar Zentimeter höher.
»Du erinnerst mich an deinen Onkel Dougal, a sionnach«, sagte sie und legte den Kopf kokett zur Seite. »Als ich ihn kennengelernt habe, war er älter als du jetzt, aber du hast dieselbe Art wie er, aye? Als würdest du dir nehmen, was dir gefällt, und zum Teufel mit jedem, der dir im Weg steht.«
Jamies Blick fiel auf Ian, der zusammengekrümmt am Boden lag, dann auf Geilie.
»Ich nehme mir, was mein ist«, sagte er leise.
»Aber diesmal kannst du es nicht, nicht wahr?«, sagte sie freundlich. »Noch ein Schritt, und ich bringe dich um. Hab’s nur noch nicht getan, weil Claire dich so zu mögen scheint.« Sie richtete den Blick auf den Schatten hinter Jamie, wo ich stand, und nickte mir zu.
»Ein Leben für ein Leben, liebe Claire. Du hast einst versucht, mich zu retten, auf dem Craigh na Dun; ich habe dich beim Hexenprozess in Cranesmuir gerettet. Wir beide sind quitt, aye?«
Geilie ergriff eine kleine Flasche, zog den Stopfen heraus und schüttete Ian den Inhalt sorgfältig über die Kleider. Brandygeruch stieg auf, kräftig und berauschend, und die Fackel flackerte auf, als die Alkoholdämpfe sie erreichten. Ian bäumte sich strampelnd auf und protestierte mit einem erstickten Laut. Sie trat ihn heftig in die Rippen.
»Sei still!«, sagte sie.
»Tu’s nicht, Geilie«, sagte ich und wusste doch, dass Worte zwecklos waren.
»Ich muss es tun«, sagte sie ruhig. »Ich bin dazu bestimmt. Es tut mir leid, dass ich das Mädchen nehmen muss, aber ich lasse dir den Mann.« Sie schüttelte sich das schwere Haar aus dem Gesicht. »Lovats letzte Erbin.« Sie lächelte mich an. »Was für ein Glück, dass du mich besucht hast, aye? Sonst hätte ich es nie erfahren. Ich dachte, sie wären vor 1900 ausgestorben.«
Grauen durchlief mich von Kopf bis Fuß. Ich konnte spüren, wie es auch Jamie erbeben ließ, und seine Muskeln spannten sich an.
Es muss ihm im Gesicht anzusehen gewesen sein. Geilie stieß einen Aufschrei aus und sprang zurück. Sie feuerte im selben Moment, als er sich auf sie stürzte. Sein Kopf flog ihm in den Nacken, und sein Körper drehte sich, während seine Hände noch nach ihrer Kehle griffen. Dann fiel er zu Boden, und sein Körper landete reglos auf dem glitzernden Rand des Pentagramms. Ian stöhnte erstickt auf.
Ich hörte nicht, dass ein Geräusch in meiner Kehle aufstieg, sondern spürte es eher. Ich hatte keine Ahnung, was ich gesagt hatte, doch Geilie wandte erschrocken das Gesicht in meine Richtung.
Als Brianna zwei war, hatte mich einmal ein Auto achtlos überholt und die hintere Tür getroffen, dort wo sie saß. Ich hatte angehalten, mich kurz vergewissert, dass ihr nichts passiert war, und war dann ausgestiegen, um auf das andere Auto zuzugehen, das ein Stück weiter angehalten hatte.
Der andere Fahrer war ein Mann Mitte dreißig, ziemlich groß und vermutlich voll und ganz von sich und der Welt überzeugt. Er blickte sich um, sah mich kommen und kurbelte hastig sein Fenster hoch, während er sich auf seinem Sitz klein machte.
Mir war weder Wut noch irgendeine andere Emotion bewusst; ich wusste nur einfach ohne den leisesten Hauch eines Zweifels, dass ich das Fenster mit der Hand einschlagen und den Mann hindurchzerren konnte – und würde. Und er wusste es auch.
Weiter dachte ich nicht, und das brauchte ich auch nicht; das Eintreffen eines Polizeiwagens hatte mich wieder in meinen normalen Geisteszustand versetzt, und dann hatte ich angefangen zu zittern. Doch den Gesichtsausdruck dieses Mannes hatte ich nie vergessen.
Feuer ist keine gute Lichtquelle, doch es hätte vollständig dunkel sein müssen, um diesen Ausdruck in Geilies Gesicht zu verbergen; die plötzliche Erkenntnis, was auf sie zukam.
Sie riss die andere Pistole aus ihrem Gürtel und hob sie, um auf mich zu zielen; ich konnte das runde Loch der Mündung deutlich sehen – und es war mir gleichgültig. Das Dröhnen des Schusses hallte durch die Höhle, und seine Echos ließen es Steinchen und Erde regnen, doch ich hatte inzwischen die Axt vom Boden aufgehoben.