»Geht es Euch gut, Mrs. Fraser?«, fragte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er meinen Arm.
»Ich weiß es wirklich nicht.« Ich fühlte mich vollkommen leer. Erschöpft wie nach einer Geburt, aber ohne das Hochgefühl. Es schien alles nicht ganz real zu sein; Jamie, Ian, Lawrence, sie alle kamen mir wie Spielzeugfiguren vor, die sich in einiger Entfernung bewegten und redeten und Geräusche von sich gaben, die ich nur mit Mühe verstand.
»Ich glaube, wir sollten vielleicht lieber gehen«, sagte Lawrence mit einem Blick auf den Höhleneingang, aus dem wir gerade gekommen waren. Seine Miene war ein wenig beklommen. Nach Mrs. Abernathy fragte er nicht.
»Ich glaube, Ihr habt recht.« Ich hatte das Bild der Höhle noch lebhaft im Kopf – doch es war genauso unwirklich wie der leuchtend grüne Dschungel und die grauen Steine hier im Freien. Ohne abzuwarten, ob die Männer mir folgten, wandte ich mich ab und ging davon.
Das Gefühl, nicht ganz da zu sein, nahm unterwegs noch zu. Ich fühlte mich wie ein Automat, der um einen Eisenkern konstruiert war und durch ein Uhrwerk bewegt wurde. Ich folgte Jamies breitem Rücken durch das Geäst und über Lichtungen, durch Schatten und Sonne, ohne Notiz davon zu nehmen, wohin wir gingen. Schweiß lief mir über die Flanken und in die Augen, aber ich konnte mich kaum dazu aufraffen, ihn abzuwischen. Schließlich machten wir gegen Sonnenuntergang auf einer kleinen Lichtung an einem Bach halt und schlugen unser primitives Lager auf.
Ich hatte bereits festgestellt, dass Lawrence ein ausgesprochen nützlicher Begleiter auf einem Campingausflug war. Nicht nur, dass er genauso geschickt wie Jamie war, wenn es darum ging, einen Unterschlupf zu finden oder zu bauen, sondern er war auch so gut mit der Flora und Fauna der Gegend vertraut, dass er im Dschungel verschwinden und innerhalb einer halben Stunde mit mehreren Händen voll essbarer Wurzeln, Pilze und Früchte zurückkehren konnte, mit denen wir die spartanischen Rationen in unseren Proviantpaketen aufbessern konnten.
Ian bekam den Auftrag, Brennholz zu sammeln, während Lawrence den Wald durchsuchte, und ich ließ mich mit Jamie und einem Töpfchen voll Wasser nieder, um mich um seine Kopfverletzung zu kümmern. Ich wusch ihm das Blut aus Gesicht und Haaren und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ihm die Kugel doch nicht die Kopfhaut zerfurcht hatte, wie ich gedacht hatte. Stattdessen war sie ihm just oberhalb des Haaransatzes in die Haut gedrungen und – ganz offensichtlich – in seinem Kopf verschwunden. Ich fand keine Spur einer Austrittswunde. Nervös und zunehmend aufgeregt betastete ich seine Kopfhaut, bis mir ein plötzlicher Ausruf des Patienten verkündete, dass ich das Geschoss gefunden hatte.
Er hatte eine große, empfindliche Schwellung am Hinterkopf. Die Pistolenkugel war unter der Haut an seinem Schädel entlanggefahren und oberhalb seines Hinterhaupts stecken geblieben.
»Jesus H. Christ!«, rief ich aus. Ungläubig betastete ich die Stelle ein weiteres Mal, doch es blieb dabei. »Du hast ja immer gesagt, dein Schädel besteht aus massivem Knochen, und der Teufel soll mich holen, wenn du nicht recht hattest. Sie hat aus nächster Nähe auf dich geschossen, und die verdammte Kugel ist von deinem Schädel abgeprallt!«
Jamie, der den Kopf auf seine Hände stützte, während ich ihn untersuchte, stieß ein Geräusch irgendwo zwischen Prusten und Stöhnen aus.
»Aye, nun ja«, sagte er, und seine Hände dämpften seine Stimme ein wenig. »Ich will ja nicht sagen, dass ich keinen Dickschädel habe, aber wenn Mistress Abernathy die volle Ladung Pulver benutzt hätte, wäre er nicht annähernd dick genug gewesen.«
»Ist es sehr schmerzhaft?«
»Die Verletzung nicht, obwohl sie empfindlich ist. Aber ich habe furchtbare Kopfschmerzen.«
»Kein Wunder. Warte einen Moment; ich hole die Kugel heraus.«
Da ich nicht hatte wissen können, in welchem Zustand wir Ian antreffen würden, hatte ich die kleinste meiner Arzneikisten mitgebracht, die glücklicherweise eine Flasche Alkohol und ein kleines Skalpell enthielt. Ich rasierte Jamie unterhalb der Schwellung ein wenig von seiner Haarpracht ab und tränkte die Stelle mit Alkohol, um sie zu desinfizieren. Meine Finger wurden eisig vom Alkohol, doch sein Kopf war warm und fühlte sich beruhigend lebendig an.
»Hol dreimal tief Luft, dann halt still«, murmelte ich. »Ich muss dich schneiden, aber es geht schnell.«
»Also gut.« Sein Nacken sah zwar ein wenig blass aus, aber sein Puls schlug regelmäßig. Gehorsam holte er tief Luft und atmete seufzend aus. Ich spannte mir seine Kopfhaut fest zwischen den linken Zeige- und Mittelfinger. Beim dritten Atemzug sagte ich »Jetzt« und zog ihm die Klinge fest und schnell über die Kopfhaut hinweg. Er grunzte leise, schrie aber nicht auf. Ich drückte vorsichtig mit dem rechten Daumen gegen die Schwellung, etwas fester – und die Kugel sprang aus dem Einschnitt und fiel mir in die linke Hand wie eine Traube.
»Hab sie«, sagte ich, und erst da begriff ich, dass ich die Luft angehalten hatte. Ich ließ ihm die kleine Kugel – durch die Berührung mit seinem Schädel etwas platt gedrückt – in die Hand fallen und lächelte ein zittriges Lächeln. »Andenken«, sagte ich. Ich presste ihm ein zusammengefaltetes Tuch auf die kleine Wunde, wickelte ihm einen Stoffstreifen um den Kopf, um es festzuhalten, und dann begann ich plötzlich und ohne jede Vorwarnung zu weinen.
Ich konnte spüren, wie mir die Tränen über das Gesicht liefen, und meine Schultern bebten, aber ich fühlte mich immer noch von allem losgelöst, als befände ich mich außerhalb meines Körpers. Eigentlich empfand ich vor allem eine Art mildes Erstaunen.
»Sassenach? Geht es dir gut?« Jamie blinzelte zu mir auf, und seine Augen blickten besorgt unter der verwegenen Binde hervor.
»Ja«, sagte ich und stotterte, so heftig musste ich weinen. »Ich w-weiß auch nicht, warum ich w-weine. Ich w-weiß es nicht!«
»Komm her.« Er nahm meine Hand und zog mich auf sein Knie herunter. Er schlang die Arme um mich und hielt mich fest, während er seine Wange auf meinem Scheitel ruhen ließ.
»Es wird alles gut«, flüsterte er. »Jetzt ist es gut, mo chridhe, es ist gut.« Er wiegte mich sanft; seine Hand strich mir über Haar und Hals, und er murmelte kleine Belanglosigkeiten in mein Ohr. So plötzlich, wie ich mich von meinem Körper gelöst hatte, war ich zurück, zitternd und warm, und ich spürte, wie sich der Eisenkern in meinen Tränen auflöste.
Allmählich hörte ich auf zu weinen und lag still an seiner Brust. Hin und wieder schluchzte ich und spürte nichts als Frieden und den Trost seiner Gegenwart.
Mir war dumpf bewusst, dass Lawrence und Ian zurückgekehrt waren, doch ich beachtete sie nicht. Irgendwann hörte ich Ian eher neugierig als erschrocken sagen: »Du hast überall Blut im Nacken, Onkel Jamie.«
»Vielleicht legst du mir dann einen neuen Verband an, Ian«, sagte Jamie. Seine Stimme war sanft und gleichgültig. »Ich muss jetzt deine Tante festhalten.« Und etwas später schlief ich ein, von seinen Armen auch jetzt noch fest umfangen.
Als ich später erwachte, lag ich zusammengerollt neben Jamie auf einer Decke. Er saß an einen Baum gelehnt, eine Hand auf meiner Schulter. Er spürte, wie ich erwachte, und drückte sanft zu. Es war dunkel, und irgendwo in der Nähe konnte ich rhythmisches Schnarchen hören. Das musste Lawrence sein, dachte ich schläfrig, denn ich konnte Ians Stimme auf der anderen Seite neben Jamie hören.
»Nein«, sagte er gerade nachdenklich, »eigentlich war es gar nicht so schlimm auf dem Schiff. Sie haben uns alle zusammen festgehalten, so dass wir uns gegenseitig Gesellschaft leisten konnten; sie haben uns anständig zu essen gegeben, und wir durften zu zweit an Deck spazieren gehen. Natürlich hatten wir alle Angst, denn wir hatten ja keine Ahnung, warum man uns entführt hatte, und keiner von den Seeleuten wollte uns etwas sagen – aber wir sind nicht misshandelt worden.«
Die Bruja war den Yallahs River hinaufgefahren und hatte ihre menschliche Fracht direkt in Rose Hall abgeladen. Hier waren die verwirrten Jungen von Mrs. Abernathy herzlich empfangen worden und prompt in ein neues Gefängnis gesteckt worden.