»Ich weiß.« Ich fühlte mich jetzt wie entrückt, als beobachtete ich uns beide aus der Ferne; ich konnte es deutlich vor meinem inneren Auge sehen; Frank, gutaussehend, schlank und ein wenig müde, mit diesen herrlich ergrauenden Schläfen. Ich, schmutzig in meiner OP-Kleidung, das Haar aufgelöst, die Vorderseite meines Hemds zerknittert und fleckig von Briannas Tränen.
Eine Weile saßen wir schweigend da, und meine Hand ruhte immer noch in Franks. Ich konnte die rätselhaften Linien und Rinnen sehen, deutlich wie eine Straßenkarte – doch zu welchem unbekannten Ziel führte diese Straße?
Ein einziges Mal hatte ich mir vor Jahren aus der Hand lesen lassen, durch eine ältere Schottin namens Graham – Fionas Großmutter. »Die Linien Ihrer Hand verändern sich mit Ihnen«, hatte sie gesagt. »Sie zeigen weniger das, womit Sie zur Welt gekommen sind, als das, was Sie aus sich machen.«
Und was hatte ich aus mir gemacht, was machte ich aus mir? Großes Chaos. Weder eine gute Mutter noch eine gute Ehefrau noch eine gute Ärztin. Chaos. Einst hatte ich gedacht, ich sei ein Ganzes – schien ich imstande zu sein, einen Mann zu lieben, ein Kind zu bekommen, die Kranken zu heilen –, und gewusst, dass all diese Dinge natürliche Teile meiner selbst waren, nicht die komplizierten, turbulenten Fragmente, in die sich mein Leben jetzt aufgelöst hatte. Doch das war in der Vergangenheit gewesen, der Mann, den ich geliebt hatte, war Jamie, und eine Zeitlang war ich Teil von etwas gewesen, das größer war als ich.
»Ich übernehme Brianna.«
Ich war so in mein Elend vertieft, dass ich Franks Worte im ersten Moment gar nicht verstand, und ich starrte ihn an wie betäubt.
»Was hast du gesagt?«
»Ich sagte«, wiederholte er geduldig, »dass ich Brianna übernehme. Sie kann von der Schule in die Universität kommen und in meinem Büro spielen, bis ich Feierabend habe.«
Ich rieb mir die Nase. »Ich dachte, du findest es unangebracht, wenn das Personal seine Kinder mit zur Arbeit bringt.« Er hatte sich ziemlich kritisch über Mrs. Clancy geäußert, eine der Sekretärinnen, die ihren Enkel einmal einen Monat lang zur Arbeit mitgenommen hatte, als seine Mutter krank war.
»Nun, es kommt auf die Umstände an. Und Brianna wird wohl kaum schreiend durch die Flure rennen und Tinte verspritzen wie Bart Clancy.«
»Darauf würde ich nicht mein Leben verwetten«, sagte ich ironisch. »Aber du würdest das tun?« In meiner zusammengekrampften Magengrube keimte ein Gefühl auf; ein vorsichtiges, ungläubiges Gefühl der Erleichterung. Auch wenn ich nicht darauf vertraute, dass Frank mir treu war – ich wusste sehr wohl, dass er es nicht war –, vertraute ich doch bedingungslos darauf, dass er sich gut um Brianna kümmern würde.
Plötzlich war die Sorge verflogen. Ich brauchte nicht vom Krankenhaus nach Hause zu hetzen, panisch, weil ich mich verspätete und befürchten musste, Brianna schmollend in ihrem Zimmer vorzufinden, weil sie wieder einmal ihre Babysitterin nicht leiden konnte. Sie liebte Frank; ich wusste, dass sie außer sich vor Freude sein würde, wenn sie jeden Tag zu ihm ins Büro gehen durfte.
»Warum?«, fragte ich unverblümt. »Es liegt nicht daran, dass du darauf brennst, dass ich Ärztin werde; das weiß ich.«
»Nein«, sagte er nachdenklich. »Daran liegt es nicht. Aber ich glaube, dass es unmöglich ist, dich daran zu hindern – vielleicht ist helfen das Beste, was ich tun kann, damit Brianna weniger Schaden nimmt.« Dann verhärteten sich seine Züge ein wenig, und er wandte sich ab.
»Falls er je das Gefühl hatte, eine Bestimmung zu haben – etwas, wozu er wirklich geboren war –, so glaubte er, dass es Brianna war«, sagte Claire. Sie rührte nachdenklich in ihrem Kakao.
»Warum interessiert dich das, Roger?«, fragte sie ihn plötzlich. »Warum fragst du mich das?«
Er wartete einen Moment mit seiner Antwort und nippte langsam an seinem Kakao – kräftig und dunkel, mit frischer Sahne und einer Prise braunem Zucker gemacht. Realistisch wie immer hatte Fiona nach dem ersten Blick auf Brianna ihre Versuche aufgegeben, Roger mit Hilfe seines Magens vor den Traualtar zu locken, aber Fiona war auf dieselbe Weise Köchin, wie Claire Ärztin war; sie besaß ein angeborenes Talent und war nicht imstande, es nicht zu benutzen.
»Wahrscheinlich, weil ich Historiker bin«, antwortete er schließlich. Er betrachtete sie über den Rand seiner Tasse hinweg. »Ich muss es wissen. Was die Menschen wirklich getan haben und warum sie es getan haben.«
»Und du glaubst, dass ich dir das sagen kann?« Sie sah ihn scharf an. »Oder dass ich es weiß?«
Er nickte und trank einen Schluck. »Du weißt es besser als die meisten anderen. Den meisten historischen Quellen mangelt es an deiner«, er hielt inne und grinste sie an, »sagen wir, deiner einzigartigen Perspektive?«
Die Anspannung ließ plötzlich nach. Sie lachte und hob ebenfalls ihre Tasse. »So kann man es sagen«, pflichtete sie ihm bei.
»Das andere«, fuhr er fort und beobachtete sie genau, »ist, dass du ehrlich bist. Ich glaube nicht, dass du lügen könntest, selbst wenn du es wolltest.«
Sie sah ihn scharf an, dann lachte sie trocken auf.
»Jeder kann lügen, lieber Roger, wenn die Motivation stimmt. Sogar ich. Es ist nur schwieriger für uns, die wir mit gläsernen Gesichtern leben; wir müssen uns unsere Lügen im Voraus zurechtlegen.«
Sie senkte den Kopf und widmete sich ihren Papieren, die sie langsam einzeln durchblätterte. Sie waren Namenslisten, diese Blätter, Listen von Häftlingen, kopiert aus den Registern britischer Gefängnisse. Die Aufgabe wurde dadurch erschwert, dass nicht alle Gefängnisse gut geführt gewesen waren.
Es gab Verwalter, die keine offiziellen Verzeichnisse ihrer Insassen führten oder sie nur schlampig in ihren Logbüchern auflisteten, zwischen den Aufzeichnungen über die täglichen Ausgaben und Verwaltungsarbeiten, wobei sie keinen großen Unterschied machten zwischen dem Tod eines Gefangenen und der Schlachtung zweier Bullen zur Herstellung von Pökelfleisch.
Roger dachte schon, Claire hätte das Gespräch beendet, doch kurz darauf blickte sie noch einmal auf.
»Allerdings hast du völlig recht«, sagte sie. »Ich bin ehrlich – zum Großteil aus Gewohnheit. Es ist nicht leicht für mich, nicht zu sagen, was ich denke. Ich vermute, dass du das erkennst, weil du genauso bist.«
»Bin ich das?« Roger empfand ein absurdes Gefühl der Freude, als hätte ihm jemand ein unerwartetes Geschenk gemacht.
Claire nickte, und auf ihren Lippen erschien ein kleines Lächeln, während sie ihn beobachtete.
»Oh, ja. Es ist schließlich unverkennbar. Es gibt nicht viele Menschen, die so sind – die einem geradeheraus die Wahrheit über sich selbst und alles andere sagen. Ich glaube, ich bin erst drei solchen Menschen begegnet – jetzt vier«, sagte sie, und ihr Lächeln wurde breiter und wärmte ihn.
»Da war natürlich Jamie.« Ihre langen Finger ruhten leicht auf dem Papierstapel, berührten ihn beinahe liebkosend. »Meister Raymond, der Apotheker, dem ich in Paris begegnet bin. Und ein Freund, den ich in der Ausbildung kennengelernt habe – Joe Abernathy. Jetzt du. Glaube ich.«
Sie neigte ihre Tasse und trank den Rest der köstlichen braunen Flüssigkeit. Dann stellte sie die Tasse hin und sah Roger direkt an.
»Aber in einer Hinsicht hat Frank recht gehabt. Es ist zwar nicht unbedingt einfacher, wenn man weiß, wozu man geboren ist – aber man verschwendet zumindest keine Zeit mit Fragen oder Zweifeln. Ehrlichkeit … macht es auch nicht unbedingt leichter. Obwohl man, wenn man sich selbst gegenüber ehrlich ist und weiß, wer man ist, vermutlich weniger Gefahr läuft zu glauben, dass man sein Leben mit den falschen Dingen verschwendet hat.«