Um zehn Uhr war sie nah genug, um einen Schuss zu wagen. Die Kugel landete weit hinter uns, doch sie jagte uns trotzdem Angst ein. Innes blickte kurz zurück, um die Entfernung zu schätzen, dann schüttelte er den Kopf und widmete sich grimmig seinem Kurs. Kreuzen würde uns jetzt nicht mehr nützen; wir mussten geradeaus fahren, solange wir konnten, und würden nur ausweichen, wenn es für alles andere zu spät war.
Um elf hatte die Porpoise bis auf eine Viertelmeile aufgeholt, und alle zehn Minuten ertönte das monotone Dröhnen ihrer Buggeschütze, weil der Kanonier die Reichweite testete. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir Erik Johansen verschwitzt und pulverfleckig über seine Kanone gebeugt vorstellen, die rauchende Lunte in der Hand. Ich hoffte, dass sie Annekje mit ihren Ziegen in Antigua gelassen hatten.
Um halb zwölf hatte es angefangen zu regnen, und es herrschte schwerer Seegang. Ein plötzlicher Windstoß traf uns von der Seite, und das Boot krängte so stark, dass die Backbordreling nur noch dreißig Zentimeter vom Wasser entfernt war. Die Bewegung warf uns auf das Deck; während wir uns entwirrten, richteten Innes und MacLeod die Pinasse gekonnt wieder auf. Ich blickte mich um, wie ich es unwillkürlich alle paar Minuten tat, und sah die Seeleute der Porpoise in die Wanten steigen, um die Toppsegel zu reffen.
»Glück für uns!«, rief mir MacGregor ins Ohr und wies kopfnickend in die Richtung, in die ich blickte. »Das wird sie aufhalten.«
Um halb eins hatte der Himmel eine sonderbare, rötlich grüne Farbe angenommen, und der Wind war zu einem gespenstischen Heulen angeschwollen. Die Porpoise hatte inzwischen weitere Segel gestrichen, und trotzdem war ihr ein Stagsegel abgerissen; das Segelleinen hatte sich vom Mast befreit und war wie ein Albatros davongeflattert. Sie feuerte schon lange nicht mehr auf uns, da sie bei diesem Wellengang ein so kleines Ziel nicht mehr treffen konnte.
Da die Sonne nicht zu sehen war, konnte ich die Zeit nicht mehr schätzen. Es war vielleicht eine Stunde später, als der Sturm mit voller Wucht über uns hereinbrach. Es war unmöglich, irgendetwas zu hören; Innes wies die Männer mit Gebärden und Grimassen an, die Segel herabzulassen; hätten wir sie gehisst gelassen oder nur gerefft, wären wir Gefahr gelaufen, dass der Mast aus den Bodenplanken gerissen wurde.
Ich klammerte mich mit einer Hand fest an die Reling, mit der anderen an Ians Hand. Jamie kauerte mit ausgebreiteten Armen hinter uns, um uns mit seinem Rücken Schutz zu gewähren. Der Regen peitschte so fest über uns hinweg, dass es auf der Haut brannte; der Wind wehte ihn beinahe waagerecht über uns hinweg, und er war so kräftig, dass der Umriss am Horizont, den ich für Eleuthera hielt, verschwamm.
Der Wellengang hatte beängstigende Höhen erreicht; die Wogen türmten sich weit über zehn Meter hoch. Die Pinasse ritt problemlos auf den Wellen; sie wurde schwindelerregend hoch gehoben, um dann abrupt in das nächste Tal zu sausen. Im Licht des Sturms war Jamies Gesicht leichenblass; das nasse Haar klebte ihm am Kopf.
Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit, als es geschah. Der Himmel war beinahe schwarz, doch über den Horizont zog sich ein gespenstisches grünes Leuchten, das die Umrisse der Porpoise hinter uns wie ein Skelett erscheinen ließ. Wieder warf uns eine Regenbö zur Seite, und wir schlingerten auf dem Kamm einer gewaltigen Welle entlang.
Während wir uns nach einem weiteren lähmenden Wassereinbruch wieder aufrichteten, packte Jamie meinen Arm und zeigte hinter uns. Der Fockmast der Porpoise hing seltsam schief und lehnte weit zur Seite. Ehe ich begreifen konnte, was geschah, waren die oberen fünf Meter des Mastes abgesplittert und mitsamt der Takelage und der Spieren ins Meer gestürzt.
Das Kriegsschiff trudelte schwerfällig um diesen improvisierten Anker herum und rutschte seitwärts in ein Wellental. Die Wand aus Wasser türmte sich über dem Schiff und brach tosend über seine Flanke herein. Die nächste Welle erhob sich, packte das Schiff von hinten und zog das hohe Achterdeck unter Wasser, so dass die Masten wie knickende Zweige umhergewirbelt wurden.
Drei Wellen noch, und sie versank; es gab kein Entrinnen für die hilflose Besatzung, doch reichlich Zeit für uns Zuschauer, ihr Grauen mitzuempfinden. Ein großer blubbernder Strudel erfüllte das Wellental, und das Kriegsschiff war fort.
Jamies Arm war hart wie Eisen unter meiner Hand. Die Männer blickten mit vor Grauen erstarrten Gesichtern zurück – alle außer Innes, der sich hartnäckig über das Steuerrad beugte und einer Welle nach der nächsten trotzte.
Eine neue Welle erhob sich neben der Reling und schien wie erstarrt über mir aufzuragen. Die gewaltige Wand aus Wasser war glasklar; ich konnte die Trümmer und die Männer der zerstörten Porpoise darin schweben sehen, die Gliedmaßen zu einem grotesken Ballett gespreizt. Thomas Leonards Leiche hing drei Meter über mir, den ertrunkenen Mund überrascht geöffnet, das lange weiche Haar über dem goldbesetzten Kragen seines Rockes ausgebreitet.
Dann brach die Welle über uns herein. Ich wurde vom Deck gerissen und versank sofort im Chaos. Blind und taub, unfähig zu atmen, wurde ich umhergeworfen, und die Macht des Wassers riss mir die Arme und Beine auseinander.
Alles war dunkel; ich konnte nur noch fühlen, intensiv und verschwommen zugleich. Druck und Lärm und überwältigende Kälte. Ich spürte weder den Sog meiner Kleidung noch den Zug des Seils – wenn es denn noch da war – an meiner Taille. Meine Beine waren plötzlich in Wärme gehüllt, deutlich in der Kälte meiner Umgebung wie eine Wolke am klaren Himmel. Urin, dachte ich, doch ich wusste nicht, ob er von mir stammte oder die letzte Berührung eines anderen menschlichen Körpers war, während ich vom Bauch der Welle verschlungen wurde.
Ich stieß mir fürchterlich den Kopf, und plötzlich hustete ich mir auf dem Deck der Pinasse, die wundersamerweise immer noch schwamm, die Lungen aus dem Leib. Hustend und keuchend setzte ich mich langsam auf. Mein Seil war noch da; es war mir so fest um die Taille gezurrt, dass ich mir sicher war, mir die unteren Rippen gebrochen zu haben. Zaghaft zerrte ich daran und versuchte zu atmen, und dann war Jamie da und hatte den einen Arm um mich gelegt, während der andere an seinem Gürtel nach einem Messer suchte.
»Geht es dir gut?«, brüllte er, und seine Stimme war im Kreischen des Windes kaum zu hören.
»Nein!«, versuchte ich zurückzubrüllen, doch es kam nur als Keuchlaut heraus. Ich schüttelte den Kopf und fasste mir an die Taille.
Der Himmel war jetzt purpurgrün, eine Farbe, die ich noch nie gesehen hatte. Jamie sägte an dem Seil; sein vornübergebeugter Kopf von der Gischt durchnässt und mahagonibraun, und der tobende Wind peitschte ihm das Haar ins Gesicht.
Das Seil riss, und ich schnappte nach Luft, ohne den stechenden Schmerz in meiner Seite und das Brennen der aufgescheuerten Haut an meiner Taille zu beachten. Das Schiff schwankte wild, und das Deck hob und senkte sich wie eine Gartenschaukel. Jamie ließ sich mit mir auf die Planken fallen und begann, sich auf Händen und Knien auf den Mast zuzuarbeiten und mich mitzuschleifen.
Meine Kleider waren nach dem Tauchgang in der Welle völlig durchnässt und klebten mir am Körper fest. Inzwischen war der Wind so stark, dass er mir die Röcke von den Beinen fortriss und sie mir dann halb getrocknet wie Gänseflügel um das Gesicht klatschen ließ.
Jamies Arm umklammerte meine Brust wie ein Eisenriegel. Ich hielt mich krampfhaft an ihm fest und versuchte, uns beim Vorankommen zu helfen, indem ich mich mit den Füßen von den rutschigen Planken abstieß. Kleinere Wellen spülten über die Reling hinweg, und wir wurden immer wieder durchnässt, doch es folgten keine riesigen Ungeheuer mehr.
Ausgestreckte Arme packten uns und zogen uns die letzten Zentimeter in den vermeintlichen Schutz des Mastes. Innes hatte das Ruder längst festgebunden; als ich jetzt den Blick hob, sah ich, wie vor uns ein Blitz ins Meer einschlug und die Speichen des Rads schwarz hervortreten ließ, so dass sich ein Bild wie Spinnennetz auf meiner Netzhaut abmalte.