»Brame!«, rief er. Der verblüffte Korporal steckte den Kopf zur Tür herein.
»Ja, Sir?«
»Bringt mir einen Gefangenen namens James Fraser. Auf der Stelle.«
Der Gefängnisverwalter stand hinter seinem Schreibtisch und stützte sich darauf, als sei die gewaltige Eichenplatte tatsächlich das Bollwerk, nach dem sie aussah. Seine Hände lagen feucht auf dem glatten Holz, und die weiße Halsbinde seiner Uniform schnürte ihm den Hals zu.
Sein Herz vollführte einen brutalen Satz, als sich die Tür öffnete. Der Schotte kam herein, und seine Eisen klirrten leise, als er vor den Schreibtisch trat. Alle Kerzen brannten, und es war beinahe taghell in der Stube, obwohl es draußen fast vollständig dunkel war.
Natürlich hatte er Fraser mehrmals gesehen, draußen auf dem Hof unter den anderen Gefangenen, von denen er die meisten um mehr als einen Kopf überragte, doch nie nah genug, um sein Gesicht deutlich zu sehen.
Er sah anders aus. Das erschreckte und erleichterte ihn zugleich; so lange hatte er in seiner Erinnerung ein glattrasiertes Gesicht gesehen, dunkel drohend oder von spöttischem Gelächter erhellt. Dieser Mann trug einen kurzen Bart; sein Gesicht strahlte Ruhe und Argwohn aus, und die dunkelblauen Augen waren zwar noch dieselben, doch nichts in ihnen verriet, dass ihn der Mann erkannte. Er stand wortlos vor dem Schreibtisch und wartete.
Grey räusperte sich. Sein Herz schlug immer noch zu schnell, doch zumindest konnte er ruhig sprechen.
»Mr. Fraser«, sagte er. »Danke, dass Ihr gekommen seid.«
Der Schotte neigte höflich den Kopf, ohne jedoch zu antworten, dass ihm schließlich keine andere Wahl geblieben war; das sagte sein Blick.
»Zweifellos fragt Ihr Euch, warum ich Euch rufen ließ«, sagte Grey. Er klang selbst für seine eigenen Ohren unerträglich aufgeblasen, war aber nicht imstande, etwas daran zu ändern. »Es hat sich eine Situation ergeben, in welcher ich Eures Beistands bedarf.«
»Und was ist das, Major?« Die Stimme war dieselbe – tief und präzise mit einem sanften Highlandrollen.
Er holte tief Luft und stützte sich auf den Tisch. Alles wäre ihm lieber gewesen, als ausgerechnet diesen Mann um Hilfe zu bitten, doch ihm blieb einfach keine andere Wahl. Fraser war die einzige Möglichkeit.
»In der Nähe der Küste wurde ein Wanderer im Moor gefunden«, sagte er vorsichtig. »Er scheint ernsthaft krank zu sein, und er redet wirr. Allerdings scheinen gewisse … Dinge, auf die er anspielt, von … beträchtlichem Interesse für die Krone zu sein. Ich muss dringend mit ihm sprechen und so viel wie möglich über seine Identität erfahren und über die Dinge, von denen er spricht.«
Er hielt inne, doch Fraser stand einfach nur da und wartete.
»Unglücklicherweise«, sagte Grey und holte erneut Luft, »hat man den fraglichen Mann eine Mischung aus Gälisch und Französisch sprechen hören und nicht mehr als ein, zwei Worte Englisch.«
Eine der roten Augenbrauen des Schotten zuckte. Sein Gesicht veränderte sich zwar nicht wahrnehmbar, doch es war offensichtlich, dass er begriffen hatte, worum es ging.
»Ich verstehe, Major.« Die Stimme des Schotten war voller Ironie. »Und Ihr wünscht meine Hilfe bei der Übersetzung dessen, was der Mann möglicherweise zu sagen hat.«
Grey traute seiner Stimme nicht, sondern nickte nur ruckartig mit dem Kopf.
»Ich muss leider ablehnen, Major«, sagte Fraser respektvoll, doch mit einem Glitzern in den Augen, das alles andere als respektvoll war. Greys Hand krümmte sich um den Messingbrieföffner auf seinem Löschpapier.
»Ihr lehnt ab?«, sagte er. Er umklammerte den Brieföffner noch fester, um seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. »Dürfte ich erfahren, warum, Mr. Fraser?«
»Ich bin Strafgefangener, Major«, sagte der Schotte höflich. »Kein Dolmetscher.«
»Ich wüsste Euren Beistand sehr … zu schätzen«, sagte Grey und versuchte, das Wort bedeutungsschwer klingen zu lassen, ohne den Mann offen zu bestechen. »Andererseits«, sein Ton wurde härter, »eine Weigerung, legitimen Beistand zu leisten …«
»Es ist weder legitim, mich für Eure Zwecke zu benutzen, noch, mir zu drohen, Major.« Frasers Stimme klang um einiges härter als Greys.
»Ich habe Euch nicht gedroht!« Die Kante des Brieföffners bohrte sich in seine Hand; er war gezwungen, seinen Griff zu lockern.
»Ach nein? Nun, es freut mich, das zu hören.« Fraser wandte sich der Tür zu. »In diesem Fall, Major, wünsche ich Euch eine gute Nacht.«
Grey hätte einiges darum gegeben, ihn einfach gehen zu lassen. Unglücklicherweise rief ihn die Pflicht.
»Mr. Fraser!« Der Schotte blieb knapp vor der Tür stehen, wandte sich jedoch nicht um.
Grey holte tief Luft, um Kraft zu schöpfen.
»Wenn Ihr tut, worum ich Euch bitte, lasse ich Euch die Eisen abnehmen«, sagte er.
Fraser stand völlig reglos da. Grey mochte noch jung und unerfahren sein, doch ein schlechter Beobachter war er nicht. Und er war auch kein schlechter Menschenkenner. Grey sah zu, wie sich der Kopf seines Gefangenen hob, wie die Anspannung in seinen Schultern wuchs, und er spürte ein leises Nachlassen der Nervosität, die ihn im Griff hatte, seit die Nachricht von dem Wanderer gekommen war.
»Mr. Fraser?«, sagte er.
Ganz langsam drehte sich der Schotte um. Sein Gesicht war absolut ausdruckslos.
»Wir haben eine Abmachung, Major«, sagte er leise.
Es war weit nach Mitternacht, als sie in der Ortschaft Ardsmuir eintrafen. In den Katen, an denen sie vorüberkamen, war kein Licht zu sehen, und Grey ertappte sich bei der Frage, was die Bewohner wohl dachten, als so spät in der Nacht Hufgetrappel und Waffengeklirr an ihren Fenstern vorüberzog, ein leises Echo der englischen Soldaten, die vor zehn Jahren durch die Highlands gestürmt waren.
Sie hatten den Wanderer in den Lime Tree gebracht, ein Wirtshaus, das diesen Namen trug, weil viele Jahre lang eine große Linde in seinem Innenhof gestanden hatte; der einzige nennenswerte Baum im Umkreis von dreißig Meilen. Jetzt war nur noch ein breiter Stumpf davon übrig – wie so vieles andere war auch der Baum in der Folge von Culloden vernichtet worden, von Cumberlands Soldaten als Brennholz verheizt –, doch der Name war geblieben.
An der Tür blieb Grey stehen und wandte sich Fraser zu.
»Ihr denkt doch an die Bedingungen unserer Abmachung?«
»Ich denke daran«, antwortete Fraser knapp und strich an ihm vorbei.
Als Gegenleistung für die Entfernung der Eisen hatte Grey drei Dinge verlangt: erstens, dass Fraser auf dem Weg zum Dorf oder auf dem Rückweg keinen Fluchtversuch unternehmen würde. Zweitens würde ihm Fraser vollständig und wahrheitsgemäß berichten, was der Wanderer sagte. Und drittens würde ihm Fraser sein Ehrenwort geben, dass er mit niemandem außer Grey über das Gehörte sprechen würde.
Im Haus erklang gälisches Gemurmel; ein Laut der Überraschung, als der Wirt Fraser erblickte, und Respekt beim Anblick des Rotrocks hinter ihm. Die Wirtin stand auf der Treppe, und die Kerze in ihrer Hand ließ ringsum die Schatten tanzen.
Erschrocken legte Grey dem Wirt eine Hand auf den Arm.
»Wer ist das?« Auf der Treppe war noch jemand, eine Erscheinung, ganz in Schwarz.
»Das ist der Priester«, sagte Fraser neben ihm leise. »Dann liegt der Mann also im Sterben.«
Grey holte tief Luft und versuchte, die Fassung zu behalten.
»Dann haben wir keine Zeit zu verlieren«, sagte er entschlossen und setzte seinen Fuß auf die Treppe. »Gehen wir.«
Der Mann starb kurz vor dem Morgengrauen; Fraser hielt ihm die eine Hand, der Priester die andere. Während sich der Priester dann über das Bett beugte, um unter gälischem und lateinischem Gemurmel Papistenzeichen über dem Körper zu machen, setzte sich Fraser auf seinem Schemel zurück, die Augen geschlossen, die schmale, zerbrechliche Hand noch in der seinen.
Der kräftige Schotte hatte die ganze Nacht an der Seite des Mannes gesessen, ihm zugehört, ihm Mut zugesprochen, ihn getröstet. Grey hatte an der Tür gestanden, weil er den Mann nicht durch den Anblick seiner Uniform erschrecken wollte. Frasers Sanftheit überraschte ihn nicht nur, sondern berührte ihn auch auf seltsame Weise.