Er vergaß zu beten und begann stattdessen, ihr Gesicht hinter seinen Lidern heraufzubeschwören, die Rundungen von Wange und Schläfe, die breite, helle Stirn, die ihn stets bewegte, sie zu küssen, auf jene kleine glatte Stelle zwischen den Augenbrauen, just am Ansatz ihrer Nase, zwischen den klaren Bernsteinaugen. Er richtete seine Gedanken auf die Form ihres Mundes, malte sich den vollen Umriss ihrer Lippen aus, wie sie schmeckten, wie herrlich sie sich anfühlten. Die Geräusche der Betenden, die kratzenden Federkiele und Giles McMartins leises, ersticktes Schluchzen verblassten in seinen Ohren.
Es war früher Nachmittag, als Melton zurückkehrte, diesmal begleitet von sechs Soldaten sowie dem Leutnant und dem Schreiber. Wieder blieb er im Eingang stehen, doch MacDonald erhob sich, ehe er etwas sagen konnte.
»Ich gehe zuerst«, sagte er und schritt entschlossen durch die Kate. Doch als er sich bückte, um durch die Tür zu gehen, legte ihm Lord Melton eine Hand auf den Ärmel.
»Nennt Ihr mir Euren vollen Namen, Sir? Mein Schreiber wird ihn notieren.«
MacDonald warf einen Blick auf den Schreiber, und sein Mundwinkel verzog sich zu einem kleinen, bitteren Lächeln.
»Eine Trophäenliste, wie? Aye, nun ja.« Er zuckte mit den Schultern und richtete sich auf. »Duncan William MacLeod MacDonald aus Glen Richie.« Er verneigte sich höflich vor Lord Melton. »Zu Euren Diensten – Sir.« Er schritt durch die Tür, und kurz darauf erscholl ganz in der Nähe ein einzelner Pistolenschuss.
Den Jungen erlaubte man, zusammen zu gehen, und sie hielten sich auch jetzt noch fest an den Händen, als sie durch die Tür schritten. Die anderen holte man einen nach dem anderen heraus und fragte jeden nach seinem Namen, damit der Schreiber ihn notieren konnte. Dieser saß auf einem Schemel vor der Tür, den Kopf über seine Papiere gebeugt, ohne aufzublicken, wenn die Männer vorüberkamen.
Als Ewan an der Reihe war, richtete sich Jamie mühselig auf die Ellbogen auf und nahm seinen Freund bei der Hand, so fest er konnte.
»Ich sehe dich bald wieder«, flüsterte er.
Ewans Hand bebte in der seinen, doch Cameron lächelte nur. Er beugte sich vor und küsste Jamie auf den Mund, dann erhob er sich zum Gehen.
Die sechs, die nicht laufen konnten, hoben sie sich bis zum Ende auf.
»James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser«, sagte er langsam, um dem Schreiber Zeit zu geben, es korrekt zu Papier zu bringen. »Herr von Broch Tuarach.« Er buchstabierte es geduldig, dann blickte er zu Melton auf.
»Ich muss Euch um den Gefallen bitten, Mylord, mir beim Aufstehen zu helfen.«
Melton antwortete ihm nicht, sondern starrte auf ihn herunter, und seine etwas angewiderte Miene wich dem Erstaunen, das sich mit aufkeimendem Grauen vermischte.
»Fraser?«, sagte er. »Aus Broch Tuarach?«
»Der nämliche«, sagte Jamie geduldig. Konnte sich der Mann denn nicht ein bisschen beeilen? Sich in das Schicksal des Todes durch die Kugel ergeben zu haben, war eine Sache, aber zuzuhören, wie die eigenen Freunde getötet wurden, eine andere, die alles andere als beruhigend auf die Nerven wirkte. Seine Arme zitterten vor Anstrengung, ihn zu stützen, und in seinen Eingeweiden, die die Resignation seines Verstandes nicht teilten, zuckte und gurgelte die Angst.
»Verdammt«, murmelte der Engländer. Er bückte sich und betrachtete Jamie, der im Schatten der Wand lag, dann wandte er sich um und winkte seinem Leutnant.
»Helft mir, ihn ans Licht zu holen«, befahl er. Sie verfuhren nicht besonders sanft, und Jamie stöhnte auf, als ihm der Schmerz wie ein Blitz vom Bein bis durch die Schädeldecke fuhr. Ihm wurde schwindelig, und im ersten Moment bekam er nicht mit, was Melton zu ihm sagte.
»Seid Ihr der Jakobit, den man den ›Roten Jamie‹ nennt?«, wiederholte er ungeduldig.
Furcht durchzuckte Jamie bei diesen Worten; wenn er durchscheinen ließ, dass er der berüchtigte Rote Jamie war, würden sie ihn nicht erschießen. Sie würden ihn in Ketten nach London bringen, um ihm dort den Prozess zu machen – als Kriegsbeute. Und dann würde ihm der Henkersstrick blühen, und er würde halb erstickt auf dem Galgenpodest liegen, während sie ihm den Bauch aufschlitzten und ihm die Gedärme herausrissen. Wieder gurgelte sein Darm ausgiebig und dröhnend; anscheinend stieß die Vorstellung auch dort nicht auf Begeisterung.
»Nein«, sagte er mit allem, was er noch an Entschlossenheit aufbringen konnte. »Kommt doch einfach zur Sache, ja?«
Ohne seine Worte zu beachten, fiel Melton auf die Knie und riss ihm den Hemdkragen auf. Er packte Jamies Haar und zerrte seinen Kopf zurück.
»Verdammt!«, sagte Melton. Meltons Finger stach ihn in den Hals, gleich oberhalb des Schüsselbeins. Er hatte dort eine kleine, dreieckige Narbe, und diese schien der Grund für die Bestürzung seines Gegenübers zu sein.
»James Fraser aus Broch Tuarach, mit rotem Haar und einer dreieckigen Narbe am Hals.« Melton ließ sein Haar los und hockte sich hin, um sich geistesabwesend das Kinn zu reiben. Dann riss er sich zusammen, wandte sich dem Leutnant zu und zeigte auf die fünf Männer, die sich noch in der Kate befanden.
»Nehmt die anderen mit«, befahl er. Seine blonden Augenbrauen waren zu einem tiefen Stirnrunzeln zusammengezogen. Er stand mit finsterer Miene vor Jamie, während die anderen schottischen Gefangenen fortgebracht wurden.
»Ich muss nachdenken«, murmelte er. »Verdammt, ich muss nachdenken!«
»Tut das«, sagte Jamie, »wenn Ihr könnt. Ich dagegen muss mich hinlegen.« Sie hatten ihn an der Wand zum Sitzen aufgerichtet und das Bein vor ihm ausgestreckt, doch nachdem er zwei Tage gelegen hatte, war das Sitzen zu viel für ihn; das Zimmer schwankte wie betrunken, und vor seinen Augen erschienen kleine blitzende Lichter. Er lehnte sich zur Seite und ließ sich zu Boden sinken, um sich an den Lehmboden zu schmiegen. Mit geschlossenen Augen wartete er auf das Ende des Schwindelanfalls.
Melton murmelte vor sich hin, doch Jamie konnte die Worte nicht ausmachen; er interessierte sich ohnehin nicht besonders dafür. Während er im Licht der Sonne saß, hatte er sein Bein zum ersten Mal genau gesehen, und er war sich hinreichend sicher, dass er nicht mehr lange genug leben würde, um gehängt zu werden.
Das brennende Rot der Entzündung breitete sich von der Mitte seines Oberschenkels aufwärts aus, viel kräftiger als die getrockneten Blutspuren. Die Wunde selbst war vereitert; jetzt, da der Gestank der anderen Männer verschwand, konnte er den schwachen, faulig süßen Geruch des Ausflusses wahrnehmen. Dennoch schien ihm eine rasche Kugel in den Kopf wünschenswerter zu sein als die Schmerzen und das Delirium, wenn er an der Entzündung starb. Ob man wohl den Knall hörte?, fragte er sich und döste ein, den kühlen festen Lehm des Fußbodens glatt und tröstend wie eine Mutterbrust unter seiner heißen Wange.
Er schlief zwar nicht richtig, sondern dämmerte nur im Fieber dahin, doch beim Klang von Meltons Stimme wurde er ruckartig hellwach.
»Grey«, sagte die Stimme, »John William Grey! Kennt Ihr diesen Namen?«
»Nein«, sagte er schlaftrunken und fiebrig. »Hört zu, Mann, erschießt mich oder verschwindet, aye? Ich bin krank.«
»In der Nähe von Carryarick«, bohrte Meltons Stimme ungeduldig weiter. »Ein Junge, ein blonder Junge, ungefähr sechzehn. Ihr seid im Wald auf ihn gestoßen.«
Jamie blinzelte zu dem Quälgeist auf. Zwar trübte das Fieber seinen Blick, doch das fein gemeißelte Gesicht mit den großen, beinahe mädchenhaften Augen hatte etwas vage Vertrautes an sich.
»Oh«, sagte er und fischte ein einzelnes Gesicht aus der Flut der Bilder, die ihm ziellos durch das Hirn wirbelten. »Der Kleine, der versucht hat, mich umzubringen. Aye, ich erinnere mich.« Er schloss die Augen. Auf jene seltsame Art, die dem Fieber eigen ist, schien eine Empfindung mit der anderen zu verschmelzen. Er hatte John William Grey den Arm gebrochen; in seiner Erinnerung wurde der schlanke Knochen unter seiner Hand zu den Knochen in Claires Unterarm, als er sie aus dem Griff der Steine riss. Der kühle Nebelhauch streichelte sein Gesicht mit Claires Fingern.