Выбрать главу

Jetzt legte Fraser die dünne, verwitterte Hand sanft auf die reglose Brust und vollführte dasselbe Zeichen wie der Priester, indem er nacheinander Stirn, Herz und beide Schultern im Zeichen des Kreuzes berührte. Er öffnete die Augen und erhob sich, so dass sein Kopf um ein Haar die niedrigen Deckenbalken berührt hätte. Er nickte Grey kurz zu und ging dann vor ihm die schmale Treppe hinunter.

»Hier hinein.« Grey wies zur Tür des Schankraums, der zu dieser Stunde leer war. Eine Magd mit verschlafenen Augen machte Feuer und brachte ihnen Brot und Ale, dann ging sie hinaus und ließ sie allein.

Er wartete, bis Fraser etwas zu sich genommen hatte, ehe er fragte.

»Nun, Mr. Fraser?«

Der Schotte stellte seinen Zinnbecher nieder und wischte sich mit der Hand über den Mund. Da er ohnehin einen Bart trug und das lange Haar ordentlich geflochten hatte, sah er auch nach der langen Nachtwache nicht mitgenommen aus, auch wenn er dunkle Ränder unter den Augen hatte.

»Also schön«, sagte er. »Großen Sinn ergibt es nicht, Major«, fügte er warnend hinzu, »aber das ist alles, was er gesagt hat.« Und er erzählte alles sorgfältig, hielt hin und wieder inne, um sich ein Wort ins Gedächtnis zu rufen, unterbrach sich dann wieder, um einen gälischen Bezug zu erklären. Grey hörte ihm mit wachsender Enttäuschung zu; Fraser hatte recht gehabt – großen Sinn ergab es nicht.

»Die weiße Hexe?«, unterbrach Grey. »Er hat von einer weißen Hexe gesprochen? Und von Seehunden?« Es schien zwar kaum weiter hergeholt zu sein als der Rest, doch sein Ton war trotzdem ungläubig.

»Aye, das hat er.«

»Erzählt es mir noch einmal«, befahl Grey. »So gut Ihr Euch erinnert. Bitte«, fügte er hinzu.

Er fühlte sich seltsam wohl in der Gesellschaft des Mannes, wie er mit einem Gefühl der Überraschung feststellte. Das lag natürlich zum Teil an schierer Erschöpfung; all seine üblichen Reaktionen und Gefühle waren nach der langen Nacht betäubt und nach der Kraftanstrengung, einem Mann allmählich beim Sterben zuzusehen.

Die ganze Nacht war Grey unwirklich vorgekommen; nicht nur dieser seltsame Abschluss, bei dem er sich im morgendlichen Dämmerlicht eines Wirtshauses auf dem Lande wiederfand, wo er mit Jamie Fraser einen Krug Ale leerte.

Fraser gehorchte. Er sprach langsam und hielt ab und zu inne, um sich zu erinnern. Abgesehen von einzelnen unterschiedlichen Wörtern war es identisch mit seinem ersten Bericht – und die Teile, die Grey selbst hatte verstehen können, waren wortgetreu übersetzt.

Entmutigt schüttelte er den Kopf. Gefasel. Das Fiebertoben des Mannes war genau das gewesen – Fiebertoben. Falls der Mann jemals Gold gesehen hatte – und es klang durchaus so, als sei das irgendwann der Fall gewesen –, ließ sich diesem Gewirr aus Delirium und Fieberwahn nicht entnehmen, wo oder wann.

»Ihr seid Euch ganz sicher, dass das alles ist, was er gesagt hat?« Grey klammerte sich an die kleine Hoffnung, dass Fraser womöglich den Bruchteil eines Satzes ausgelassen hatte, irgendeine Formulierung, die einen Hinweis auf das verschwundene Gold preisgeben würde.

Frasers Ärmel fiel zurück, als er seinen Becher hob; Grey konnte das breite Band aus rohem Fleisch sehen, das sich um sein Handgelenk zog, dunkel im grauen Morgenlicht des Schankraums. Fraser sah, wie sein Blick darauf fiel, und stellte den Becher hin, so dass die schwache Illusion der Kameradschaft zersprang.

»Ich halte meine Abmachungen, Major«, sagte Fraser mit kalter Förmlichkeit. Er erhob sich. »Sollen wir jetzt zurückkehren?«

Eine Weile ritten sie schweigend dahin. Fraser war in seinen eigenen Gedanken verloren, Grey in Erschöpfung und Enttäuschung versunken. An einer kleinen Quelle hielten sie an, um sich zu erfrischen, just als die Sonne über die kleinen Hügel im Norden kam.

Grey trank kaltes Wasser, dann bespritzte er sich das Gesicht und spürte sich durch den Schock zumindest vorerst belebt. Er war jetzt mehr als vierundzwanzig Stunden wach und fühlte sich müde und betäubt.

Fraser war dieselben vierundzwanzig Stunden wach, schien dadurch jedoch nicht im mindesten beeinträchtigt zu sein. Geschäftig kroch er auf allen vieren um die Quelle herum und schien eine Pflanze aus dem Wasser zu pflücken.

»Was macht Ihr da, Mr. Fraser?«, fragte Grey verwundert.

Fraser hob den Kopf, etwas überrascht, aber nicht verlegen.

»Ich pflücke Brunnenkresse, Major.«

»Das sehe ich«, sagte Grey gereizt. »Wozu?«

»Zum Essen, Major«, erwiderte Fraser gleichmütig. Er nahm den fleckigen Stoffbeutel von seinem Gürtel und ließ die triefende grüne Masse hineinfallen.

»Ach ja? Bekommt Ihr nicht genug zu essen?«, fragte Grey verständnislos. »Ich habe noch nie gehört, dass die Leute Brunnenkresse essen.«

»Sie ist grün, Major.«

In seinem erschöpften Zustand bekam der Major den Verdacht, dass man sich einen Scherz mit ihm erlaubte.

»Welche Farbe sollte so ein gottverdammtes Kraut denn sonst haben?«, wollte er wissen.

Frasers Mund zuckte sacht, und er schien etwas mit sich selbst zu erörtern. Schließlich zuckte er mit den Schultern und wischte sich die nassen Hände an den Hosenbeinen ab.

»Ich wollte damit nur sagen, Major, dass man keine Zähne durch Skorbut verliert, wenn man grüne Pflanzen isst. Meine Männer essen das Grün, das ich ihnen mitbringe, und Kresse schmeckt besser als die meisten Pflanzen, die ich im Moor pflücken kann.«

Grey spürte, wie seine Augenbrauen in die Höhe fuhren.

»Grüne Pflanzen beugen Skorbut vor?«, entfuhr es ihm. »Woher in aller Welt habt Ihr das?«

»Von meiner Frau!«, herrschte ihn Fraser an. Abrupt wandte er sich ab und blieb stehen, während er mit festen, raschen Bewegungen seinen Beutel zuband.

Grey konnte sich die Frage nicht verkneifen.

»Eure Frau, Sir – wo ist sie?«

Die Antwort war ein plötzliches Aufblitzen von dunklem Blau, das ihn bis ins Mark erschreckte, so schockierend war seine Intensität.

Vielleicht seid Ihr noch zu jung, um Hass und Verzweiflung aus nächster Nähe erlebt zu haben, sagte Quarrys Stimme in Greys Erinnerung. Nein, das war er nicht; er erkannte beides in den Tiefen von Jamie Frasers Augen.

Jedoch nur einen Moment; dann war sein üblicher Schleier aus kühler Höflichkeit wieder an seinem Platz.

»Meine Frau ist fort«, sagte Fraser und wandte sich wieder ab, so abrupt, dass es beinahe unverschämt war.

Grey spürte, wie ihn ein unerwartetes Gefühl erschütterte. Zum Teil war es Erleichterung. Die Frau, die sowohl Grund als auch Komplizin seiner Erniedrigung gewesen war, war tot. Zum Teil war es Bedauern.

Keiner von ihnen sagte auf dem Rückweg nach Ardsmuir ein weiteres Wort.

Drei Tage später entkam Jamie Fraser. Es war nicht schwer für die Gefangenen, aus dem Gefängnis von Ardsmuir zu entkommen; es kam einfach nicht vor, weil es kein Ziel für den Flüchtenden gab. Einige Meilen jenseits des Gefängnisses stürzte Schottlands Küste an einer bröckeligen Granitklippe in den Ozean. Auf den anderen drei Seiten erstreckte sich meilenweit nichts als ödes Moorland.

Einst konnte ein Mann in der Heide leben und sich auf die Unterstützung und den Schutz von Clan und Familie verlassen. Doch die Clans waren vernichtet, die Familien tot, die schottischen Gefangenen weit von ihrem angestammten Land entfernt. Im kahlen Moor zu hungern war kaum besser als eine Gefängniszelle. Es lohnte sich nicht zu fliehen – außer für Jamie Fraser, der offenbar einen Grund hatte.

Die Pferde der Dragoner wichen nicht von der Straße ab; das Moor ringsum sah zwar so glatt aus wie eine Decke aus Samt, doch das violett erblühende Heidekraut war nur eine dünne Schicht, die sich trügerisch über einem knappen halben Meter nassem, schwammigem Torfmoos ausbreitete. Selbst das Rotwild wanderte nicht einfach so in diese sumpfige Masse hinaus – gerade jetzt konnte Grey vier der Tiere sehen, Strichmännchen in einer Meile Entfernung, ihr Pfad ein dünner Streifen in der Heide, der kaum breiter als ein Faden zu sein schien.