»Die Wahrheit also.« Er holte tief Luft; Grey konnte sehen, wie die Brust seines Leinenhemds anschwoll – er besaß keine Weste.
»Ich habe mein Wort gehalten, Major. Ich habe Euch wortgetreu alles berichtet, was der Mann in dieser Nacht zu mir gesagt hat. Was ich Euch nicht gesagt habe, war, dass einiges von dem, was er erzählt hat, mir etwas bedeutete.«
»Ach ja.« Grey zwang sich zur Reglosigkeit; er wagte es kaum, sich zu bewegen. »Und was?«
Frasers breiter Mund presste sich zu einer dünnen Linie zusammen.
»Ich … habe Euch von meiner Frau erzählt«, sagte er und zwang die Worte hervor, als schmerzten sie ihn.
»Ja, Ihr habt gesagt, sie wäre tot.«
»Ich habe gesagt, sie wäre fort, Major«, verbesserte ihn Fraser leise. Sein Blick war auf den Bauern geheftet. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie tot ist, aber …« Er hielt inne und schluckte, dann fuhr er entschlossener fort.
»Meine Frau war eine Heilerin. Sie war eine Weiße Dame – eine weise Frau.« Er blickte kurz auf. »Das gälische Wort ist ban-druidh; es bedeutet auch Hexe.«
»Die Weiße Hexe.« Auch Grey sprach leise, doch die Erregung summte in seinem Blut. »Also hatten die Worte des Mannes mit Eurer Frau zu tun?«
»Ich dachte, es wäre vielleicht so. Und falls ja …« Die breiten Schultern regten sich in einem kleinen Achselzucken. »Ich musste gehen«, sagte er schlicht. »Und nachsehen.«
»Woher wusstet Ihr denn, wohin Ihr gehen musstet? Habt Ihr das ebenfalls den Worten des Wanderers entnommen?« Neugierig beugte sich Grey ein wenig vor. Fraser nickte, den Blick nach wie vor auf die elfenbeinerne Schachfigur geheftet.
»Es gibt eine Stelle, von der ich wusste, nicht allzu weit von hier entfernt, wo es einen Schrein für die Heilige Bride gibt. Auch St. Bride wurde ›die Weiße Dame‹ genannt«, erklärte er und blickte auf. »Obwohl der Schrein schon sehr lange an dieser Stelle ist – und schon lange vor Brides Ankunft in Schottland dort war.«
»Ich verstehe. Also habt Ihr angenommen, dass sich die Worte des Mannes nicht nur auf Eure Frau bezogen, sondern auch auf diese Stelle?«
Erneutes Achselzucken.
»Ich wusste es nicht«, wiederholte Fraser. »Ich konnte nicht sagen, ob er meine Frau meinte oder ob ›die Weiße Hexe‹ nur St. Bride bedeutete, mich also nur zu der Stelle führen sollte, oder vielleicht nichts davon. Aber ich hatte das Gefühl, gehen zu müssen.«
Er beschrieb die fragliche Stelle und auf Greys Nachbohren auch den Weg dorthin.
»Der Schrein selbst ist ein kleiner Stein in Gestalt eines antiken Kreuzes, so verwittert, dass die Reliefs kaum noch zu sehen sind. Es steht über einem kleinen Wasserbecken, halb in der Heide vergraben. In seinem Wasser kann man kleine weiße Steine finden, in den Wurzeln der Heide verfangen, die am Ufer wächst. Man sagt diesen Steinen magische Kräfte nach, Major«, erklärte er, als er den verständnislosen Blick seines Gegenübers sah. »Aber nur in der Hand einer Weißen Dame.«
»Ich verstehe. Und Eure Frau …?« Grey hielt fragend inne.
Fraser schüttelte kurz den Kopf.
»Es war nichts dort, was mit ihr zu tun hatte«, sagte er leise. »Sie ist wirklich fort.« Seine Stimme war leise und kontrolliert, doch Grey konnte den Unterton der Trostlosigkeit hören.
Frasers Gesicht war normalerweise ruhig und unergründlich; auch jetzt änderte sich zwar seine Miene nicht, doch die Spuren des Schmerzes hatten sich deutlich in die Falten rings um Mund und Augen gegraben, die durch das flackernde Feuer in Dunkel getaucht wurden. Es schien aufdringlich, ihn in diesem tiefen Gefühl zu stören, auch wenn er es mit keinem Wort ansprach, doch Grey hatte seine Pflicht.
»Und das Gold, Mr. Fraser?«, fragte er leise. »Was ist damit?«
Fraser stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Es war da«, sagte er ausdruckslos.
»Was!« Grey fuhr kerzengerade zum Sitzen auf und starrte den Schotten an. »Ihr habt es gefunden?«
Jetzt blickte Fraser zu ihm auf, und sein Mund verzog sich ironisch.
»Ich habe es gefunden.«
»War es tatsächlich das französische Gold, das Louis für Charles Stuart geschickt hat?« Die Erregung raste Grey durch die Adern, gemeinsam mit Visionen, in denen er seinen Vorgesetzten in London große Kisten voll goldener Louisdore überbrachte.
»Louis hat den Stuarts niemals Gold geschickt«, sagte Fraser im Ton der Überzeugung. »Nein, Major, was ich an der Heiligenquelle gefunden habe, war zwar Gold, aber es waren keine französischen Münzen.«
Was er gefunden hatte, war eine kleine Kiste, die einige Gold- und Silbermünzen enthielt, und ein kleiner Lederbeutel, der mit Juwelen gefüllt war.
»Juwelen?«, entfuhr es Grey. »Woher zum Teufel kamen sie?«
Fraser warf ihm einen etwas ungeduldigen Blick zu.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Major«, sagte er. »Woher soll ich das wissen?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Grey und hüstelte, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Gewiss doch. Aber dieser Schatz – wo ist er jetzt?«
»Ich habe ihn ins Meer geworfen.«
Grey starrte ihn verständnislos an.
»Ihr habt – was?«
»Ich habe ihn ins Meer geworfen«, wiederholte Fraser geduldig. Seine blauen Katzenaugen sahen Grey ungerührt an. »Vielleicht habt Ihr schon einmal von einem Ort gehört, den sie den Teufelskessel nennen, Major? Er ist nicht mehr als eine halbe Meile von der Heiligenquelle entfernt.«
»Warum? Warum habt Ihr das getan?«, wollte Grey wissen. »Das macht doch kein denkender Mensch, Mann!«
»In diesem Moment war das Denken aber meine letzte Sorge, Major«, sagte Fraser leise. »Ich war voll Hoffnung dorthin gegangen – und ohne diese Hoffnung war der Schatz nicht mehr als eine Kiste mit Steinen und ein paar angelaufenen Metallstückchen. Ich hatte keine Verwendung dafür.« Er blickte auf und hatte eine Augenbraue ironisch hochgezogen. »Allerdings hatte ich auch nicht vor, es König Geordie zu geben. Also habe ich es ins Meer geschleudert.«
Grey lehnte sich zurück und schenkte sich mechanisch Sherry nach, doch er bemerkte kaum, was er tat. Seine Gedanken waren in Aufruhr.
Den Kopf abgewandt und das Kinn auf seine Faust gestützt, saß Fraser da. Er blickte ins Feuer, und sein Gesicht war wieder in die übliche Reglosigkeit verfallen. Das Licht fiel von hinten auf ihn und beleuchtete die lange, gerade Linie seiner Nase und die sanfte Wölbung seiner Lippe, während Kinn und Stirn in strengem Schatten lagen.
Grey trank einen ordentlichen Schluck Sherry und fasste sich wieder.
»Das ist ja eine rührende Geschichte, Mr. Fraser«, sagte er gleichmütig. »Äußerst dramatisch. Und doch gibt es keinen Beweis, dass es die Wahrheit ist.«
Fraser regte sich und wandte Grey den Kopf zu. Jamies Katzenaugen verengten sich zu etwas, das nach Belustigung aussah.
»Aye, den gibt es, Major«, sagte er. Er griff in den Bund seiner Kniehose, fingerte einen Moment umher und hielt abwartend die Hand über den Tisch.
Grey streckte automatisch seinerseits die Hand aus, und ein kleiner Gegenstand fiel ihm in die offene Handfläche.
Es war ein Saphir, dunkelblau wie Frasers Augen und von beträchtlicher Größe.
Grey öffnete den Mund, sagte aber nichts, denn das Erstaunen verschlug ihm den Atem.
»Hier ist Euer Beweis für die Existenz des Schatzes, Major.« Fraser wies kopfnickend auf den Stein in Greys Hand. Dann blickte er Grey über den Tisch hinweg in die Augen. »Und was den Rest betrifft – muss ich Euch leider sagen, Major, dass Ihr Euch auf mein Wort verlassen müsst.«
»Aber … aber … Ihr habt doch gesagt …«
»Ja.« Fraser war so ruhig, als hätten sie sich über den Regen vor dem Fenster unterhalten. »Ich habe diesen einen Stein behalten, weil ich dachte, er könnte mir vielleicht helfen, falls ich je freikomme, oder dass ich vielleicht eine Möglichkeit finden könnte, ihn meiner Familie zu übersenden. Denn Ihr begreift sicher, Major«, in Jamies blauen Augen glitzerte es verächtlich, »dass meine Familie einen solchen Schatz nicht benutzen könnte, ohne unwillkommene Aufmerksamkeit zu erregen. Einen Stein vielleicht, aber keine größere Menge.«