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»Er wusste ja, dass er keine große Chance hatte davonzukommen; wenn ihn die Engländer aufgespürt hätten … Er hat gesagt, er würde lieber in der Schlacht sterben. Das war es, was er vorhatte.« Der Blick ihrer Bernsteinaugen richtete sich auf Roger. Sie erinnerten ihn verstörend an Falkenaugen, als könnte sie um einiges weiter sehen als die meisten anderen Menschen. »Ich kann es nicht glauben, dass er nicht dort gestorben ist – es sind so viele dort gestorben, und er hat es darauf angelegt!«

Fast die Hälfte der Highlandarmee war in Culloden umgekommen, niedergemäht im Feuer der Kanonen und der sengenden Musketen. Aber Jamie Fraser nicht.

»Nein«, sagte Roger unbeirrbar. »Diese Passage aus Linklaters Buch, die ich dir vorgelesen habe …« Er streckte die Hand nach dem Buch aus, ein weißer Band mit dem Titel Der Prinz in der Heide.

»Nach der Schlacht«, las er, »suchten achtzehn jakobitische Offiziere, alle verwundet, Zuflucht in dem alten Haus und lagen zwei Tage unter Schmerzen dort, ohne dass man ihre Verletzungen versorgte; dann holte man sie ins Freie, um sie zu erschießen. Einer von ihnen, ein Fraser aus dem Regiment des jungen Lovat, entkam dem Gemetzel; die anderen sind am Rand der Parkanlage begraben. Verstehst du?«

Er legte das Buch nieder und richtete den Blick ernst auf die beiden Frauen. »Ein Offizier aus dem Regiment des jungen Lovat.« Er ergriff die Bögen der Musterrolle.

»Und hier sind sie! Es gab nur sechs. Und wir wissen, dass der Mann in der Kate nicht Simon gewesen sein kann; er ist eine bekannte historische Figur, und wir wissen sehr genau, was aus ihm geworden ist. Er hat mit einer Gruppe seiner Männer den Rückzug angetreten – und zwar unverletzt – und sich nach Norden durchgekämpft, bis er schließlich Beaufort erreichte, ganz in der Nähe.« Er wies vage auf die Glastür, durch die das schwache Glitzern der Lichter von Inverness drang.

»Und der Mann, der aus Leanach entkommen ist, war auch keiner der anderen vier Offiziere – William, George, Duncan oder Bayard«, sagte Roger. »Warum?« Er fischte ein anderes Blatt aus dem Ordner und wedelte beinahe triumphierend damit. »Weil sie alle in Culloden gestorben sind! Sie sind alle vier auf dem Feld gefallen – ich habe ihre Namen auf einer Gedenktafel in der Kirche von Beauly gefunden.«

Claire atmete tief aus, dann ließ sie sich auf den alten Lederdrehstuhl hinter dem Schreibtisch sinken.

»Jesus H. Christ«, sagte sie. Sie schloss die Augen und beugte sich vor, die Ellbogen auf dem Tisch und den Kopf in die Hände gestützt, so dass ihr die dichten braunen Locken vor das Gesicht fielen und es verbargen. Brianna legte Claire die Hand auf den Rücken und beugte sich mit besorgter Miene über ihre Mutter. Sie war eine hochgewachsene junge Frau mit ausgeprägten, feinen Knochen, und ihr langes rotes Haar schimmerte im Licht der Schreibtischlampe.

»Wenn er nicht gestorben ist …«, begann sie zögerlich.

Claires Kopf fuhr auf. »Aber er ist tot!«, sagte sie. Ihr Gesicht war angespannt, und rings um ihre Augen malten sich kleine Falten ab. »In Gottes Namen, es ist zweihundert Jahre her; ob er nun in Culloden gestorben ist oder nicht, jetzt ist er tot!«

Die heftige Reaktion ihrer Mutter ließ Brianna zurückweichen, und sie senkte den Kopf, so dass das rote Haar – das rote Haar ihres Vaters – neben ihrer Wange niederschwang.

»So ist es wohl«, flüsterte sie. Roger konnte sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte. Kein Wunder, dachte er. Kurz nacheinander erst herauszufinden, dass der Mann, den man ein Leben lang »Vater« genannt hatte, gar nicht der richtige Vater war, dann, dass der richtige Vater ein Highlandschotte war, der vor zweihundert Jahren gelebt hatte, und drittens zu begreifen, dass er vermutlich auf grauenhafte Weise umgekommen war, undenkbar weit fort von der Frau und dem Kind, für die er sich geopfert hatte … das konnte einen schon aus der Bahn werfen, dachte Roger.

Er trat zu Brianna und berührte ihren Arm. Sie warf ihm einen kurzen, zerstreuten Blick zu und versuchte zu lächeln. Er legte die Arme um sie und dachte bei allem Mitgefühl für ihre Bestürzung doch auch, wie herrlich sie sich anfühlte, warm und weich und geschmeidig zugleich.

Claire saß nach wie vor reglos am Schreibtisch. Ihre gelben Falkenaugen hatten jetzt einen weicheren Farbton angenommen und verloren sich in der Erinnerung. Sie ruhten blicklos auf der östlichen Wand des Studierzimmers, die auch jetzt noch von der Decke bis zum Boden mit den Notizen und Erinnerungsstücken Reverend Wakefields bedeckt war, der Rogers Adoptivvater gewesen war.

Auch Roger richtete den Blick auf die Wand und sah die Einladung zur Jahresversammlung der Gesellschaft der Weißen Rose – jener begeisterungsfähigen, exzentrischen Seelen, die auch heute noch von der Unabhängigkeit Schottlands träumten und sich zum nostalgischen Tribut an Charles Stuart zusammenfanden und an die Highlandhelden, die ihm gefolgt waren.

Roger räusperte sich leise.

»Äh … wenn Jamie Fraser nicht in Culloden gestorben ist …«, sagte er.

»Dann ist er vermutlich kurz darauf gestorben.« Claires Augen sahen Roger unverblümt an, und jetzt war der kühle Ausdruck in die gelblich braunen Tiefen zurückgekehrt. »Du hast doch keine Ahnung, wie es damals war«, sagte sie. »Es herrschte Hungersnot in den Highlands – vor der Schlacht hatten sie alle tagelang nichts mehr gegessen. Er war verletzt – das wissen wir. Selbst wenn er entkommen wäre, wäre ja niemand da gewesen, der sich … um ihn kümmerte.« Ihre Stimme überschlug sich leise; heute war sie Ärztin, war schon damals Heilerin gewesen, zwanzig Jahre zuvor, als sie durch einen Steinkreis geschritten war und ihrem Schicksal in Gestalt von James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser begegnet war.

Roger war sich der beiden Frauen bewusst; der hochgewachsenen, zitternden jungen Frau, die er in den Armen hielt, und der Frau am Schreibtisch, so reglos und gefasst. Sie war durch die Steine gereist, durch die Zeit; war der Spionage verdächtigt worden, als Hexe verhaftet worden, durch eine unvorstellbare Laune des Schicksals aus den Armen ihres ersten Ehemanns Frank Randall gerissen worden. Und drei Jahre später hatte ihr zweiter Mann Jamie Fraser sie schwanger durch die Steine zurückgeschickt, ein verzweifelter Versuch, sie und das ungeborene Kind vor der Katastrophe zu retten, die unweigerlich über ihn hereinbrechen würde.

Gewiss, so dachte er, hat sie doch genug durchgemacht? Doch Roger war Historiker. Er besaß die unersättliche, amoralische Neugier eines Wissenschaftlers, die zu machtvoll war, um sich von simplem Mitgefühl bändigen zu lassen. Mehr noch, er empfand ein seltsames Gespür für die dritte Person in der Familientragödie, in die er sich verwickelt sah – Jamie Fraser.

»Wenn er nicht in Culloden gestorben ist«, begann er erneut, diesmal entschlossener, »dann kann ich vielleicht herausfinden, was aus ihm geworden ist. Möchtest du, dass ich es versuche?« Er wartete atemlos und spürte Briannas warmen Atem durch sein Hemd.

Jamie Fraser hatte gelebt und war gestorben. Roger hatte das obskure Gefühl, dass es seine Pflicht war, es herauszufinden, dass Jamie Frasers Frauen es verdienten zu erfahren, was immer sich über ihn herausfinden ließ. Für Brianna war dieses Wissen alles, was sie von dem Vater haben würde, dem sie nie begegnet war. Und für Claire … Hinter der Frage, die er gestellt hatte, steckte der Gedanke, der ihr sichtlich noch nicht gekommen war, betäubt und schockiert, wie sie war: Sie hatte die Barriere der Zeit zweimal überwunden. Möglich, dass sie es noch einmal vermochte. Und wenn Jamie Fraser nicht in Culloden gestorben war …

Er sah, wie es im trüben Bernstein ihrer Augen aufflackerte, als ihr der Gedanke kam. Sie war ohnehin immer blass; jetzt wurde ihr Gesicht so weiß wie der Elfenbeingriff des Brieföffners vor ihr auf dem Schreibtisch. Ihre Finger schlossen sich so fest darum, dass sich die Knöchel deutlich abmalten.