«Ziehen Sie Ihren Mantel aus«, konnte ich um mich herum hören.»Zieht eure Mäntel aus.«
Guter Gott, Litsi, betete ich, halt dich bloß fest.
Andere riefen es ihm zu:»Halten Sie sich fest! Halten Sie sich fest!«, und einer oder zwei schrien töricht, und es schien mir ein ziemlicher Lärm zu sein, obwohl sehr viele auch still waren.
Ein kleiner Junge mit riesengroßen Augen machte den Reißverschluß seines Windjäckchens auf, zog seinen gemusterten Pullover aus, schmiß beides auf den wachsenden, sich verbreiternden Haufen, und als er dann in seinem leuchtenden T-Shirt in der Menge umherrannte, hörte ich ihn rufen:»Schnell, schnell, ziehen Sie Ihre Mäntel aus.«
Es funktionierte. Immer mehr Mäntel kamen, fielen, wurden weitergereicht durch die Menge und kunterbunt zu einer Matratze übereinandergeworfen, bis der Kreis am Boden groß genug war, um ihn aufzufangen, wenn er stürzte, aber er konnte noch dicker sein, dicker.
Niemand war von der Balkonseite her zu Litsi gelangt; keine starken Arme packten ihn, um ihn hinaufziehen.
Die Mäntel flogen wie Blätter. Nach allen Seiten hatte die Parole sich herumgesprochen.»Ziehen Sie Ihren Mantel aus, den Mantel ausziehen, schnell. schnell.«
Als Litsi stürzte, sah er aus wie ein weiterer fliegender Mantel, nur daß er sehr schnell herunterkam, wie ein Bleilot. Eben hing er noch dort, im nächsten Augenblick war er unten. Er fiel zuerst senkrecht, dann rissen seine massigen Schultern ihn nach hinten über, und er landete beinahe flach auf dem Rücken.
Er prallte schwer auf den Mänteln auf, rollte und rutschte von ihnen herunter und blieb seitlich ausgestreckt mit dem Kopf auf einem Mantel und dem Körper auf dem Asphalt liegen, schlaff wie eine Stoffpuppe.
Mit einem Satz kniete ich neben ihm und sah sofort, daß er zwar benommen war, aber wirklich noch lebte. Hände streckten sich, um ihm aufzuhelfen, doch so weit war er noch nicht, und ich sagte:»Nicht anrühren… warten Sie, bis er sich bewegt… man muß vorsichtig sein.«
Jeder, der zum Pferderennen ging, wußte von Rückgratverletzungen und wußte, daß man Jockeys erst bewegte, wenn man es unbesorgt tun konnte, und hier war ich in meinen Jockeyfarben, um sie daran zu erinnern. Die Hände waren bereit, aber sie faßten ihn nicht an.
Ich blickte zu den vielen Leuten, alle in Hemdsärmeln, alle zitternd vor Kälte, allesamt Heilige. Manche weinten, so auch die Frau, die ihren Nerz dazugelegt hatte.
«Litsi«, sagte ich, auf ihn hinunterschauend; eine gewisse Klarheit kehrte in seine Augen zurück.»Litsi, wie geht es Ihnen?«
«Ich… Bin ich gefallen?«Er bewegte seine Hand, dann seine Füße, nur ein wenig, und in der Menge ringsum entstand erleichtertes Gemurmel.
«Ja. Sie sind gefallen«, sagte ich.»Bleiben Sie noch einen Moment so. Es ist alles in Ordnung.«
Jemand rief von oben herunter:»Geht’s ihm gut?«, und dort, auf dem Balkon, standen die beiden Männer, die offenbar hinaufgegangen waren, um ihn zu retten.
Die Leute riefen:»Ja«, und klatschten Beifall und fingen in beinah festlicher Stimmung an, ihre Mäntel aus dem
Stapel zu bergen. Es mußten fast zweihundert gewesen sein, dachte ich beim Zuschauen. Anoraks, Steppjacken, Tweedsachen, Trenchcoats, Pelze, Anzugjacken, Pullover, sogar eine Pferdedecke. Das Entwirren des riesigen Haufens dauerte viel länger als seine Entstehung.
Der kleine Junge mit den großen Augen suchte sein blaues Windjäckchen heraus und zog es über seinen Pullover, wobei er mich anstarrte. Ich umarmte ihn.»Wie heißt du?«sagte ich.
«Matthew.«
«Du bist ein toller Bursche.«
«Das ist der Mantel von meinem Daddy«, sagte er,»wo der Mann den Kopf drauf hat.«
«Sag ihm, er soll ihn noch einen Moment liegen lassen.«
Jemand war zu den Sanitätern gelaufen, die jetzt mit einer Tragbahre kamen.
«Es geht schon«, sagte Litsi schwach, aber er war immer noch außer Atem und ohne rechte Orientierung und murrte nicht, als sie sich anschickten, ihn wegzutragen.
Danielle war plötzlich mit blassem Gesicht neben ihm.
«Litsi«, sagte sie,»o Gott…«Sie sah mich an.»Ich hatte auf ihn gewartet… es hieß, ein Mann sei abgestürzt… ist er in Ordnung?«
«Bald«, sagte ich.»Er ist bald wieder klar.«
«Oh.«
Ich legte die Arme um sie.»Es ist gutgegangen. Er hat offenbar keine Schmerzen, ihm ist nur die Luft weggeblieben.«
Sie machte sich langsam los und ging neben der Tragbahre her, als diese auf eine fahrbare Plattform geladen wurde.
«Sind Sie seine Frau?«hörte ich einen Krankenträger fragen.
«Nein… eine Bekannte.«
Der Vater des kleinen Jungen las seinen Mantel auf und schüttelte mir die Hand. Die Frau hob ihren plattgedrückten Nerz auf, klopfte Staub davon ab und gab mir einen Kuß. Ein Steward kam herüber und sagte, ob ich nun bitte auf mein Pferd steigen und an den Start gehen würde, das Rennen habe sich ohnehin schon verzögert, und ich schaute auf die Rennplatzuhr und sah verblüfft, daß kaum fünfzehn Minuten vergangen waren, seit ich aus dem Waageraum gekommen war.
Alle Pferde, alle Besitzer und Trainer warteten noch im Führring, als wäre die Zeit stehengeblieben, aber jetzt saßen die Jockeys auf; der Tod war abgewendet, das Leben konnte also weitergehen.
Ich hob meinen Anorak auf. Die Mäntel und Jacken waren alle wieder eingesammelt worden, und er lag allein auf dem Asphalt, mit meiner Peitsche darunter. Ich sah zu dem Balkon hinauf, so hoch oben, so verlassen und unscheinbar. Auf einmal schien alles nicht mehr wahr zu sein, dabei waren die Fragen noch gar nicht gestellt. Wieso war er dort oben gewesen? Wie hatte es dazu kommen können, daß sein Leben nur noch an den Fingerspitzen hing? Wo hatte er nicht aufgepaßt?
Litsi blieb auf einem Bett in der Sanitätswache liegen, bis die Rennen vorbei waren, danach beteuerte er, er habe sich vollkommen erholt und sei bereit, nach London zurückzufahren.
Er entschuldigte sich beim Rennvereinsvorstand, daß er so dumm gewesen sei, auf den Balkon zu gehen, um die vielgerühmte neue Aussicht zu bewundern, und sagte, er habe es allein der eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschrei-ben, daß er über irgendwelches Baumaterial gestolpert und aus dem Gleichgewicht geraten sei.
Auf die Frage, wie er heiße, hatte er ihnen mit einer Kurzfassung seines Nachnamens ohne den» Prinz «davor geantwortet, und er hoffte, daß es nicht zuviel öffentlichen Wirbel um seine Dummheit geben würde.
Das alles erzählte er uns, als er mit Danielle hinten im Wagen saß und wir nach London aufbrachen.
«Wieso sind Sie denn gestolpert?«fragte ich und warf hin und wieder im Rückspiegel einen Blick auf ihn.»Lag da oben viel Zeug herum?«
«Bretter und ähnliches. «Er klang verwirrt.»Ich weiß nicht genau, wie ich gestolpert bin. Ich stand auf irgend etwas, das wackelte, und ich streckte die Hand aus, um mich zu stützen, und sie fuhr über die Mauer ins Leere. Es ging so schnell… ich habe einfach den Halt verloren.«
«Hat Sie jemand gestoßen?«fragte ich.
«Kit!«sagte Danielle entsetzt, aber man mußte es in Betracht ziehen, und Litsi hatte das offenbar schon getan.
«Ich habe den ganzen Nachmittag dort gelegen«, sagte er langsam,»und versucht mich zu erinnern, wie es eigentlich passiert ist. Ich habe da oben niemand gesehen, dessen bin ich sicher. Ich stand auf etwas, das wippte wie eine Schaukel, und kam total aus dem Gleichgewicht. Ich möchte nicht meinen, daß ich gestoßen wurde.«
«Hm«, sagte ich nachdenklich,»haben Sie was dagegen, wenn wir noch mal hinfahren? Ich hätte mir das gleich ansehen sollen, als ich mit Reiten fertig war.«
«Die Leute von der Rennbahn waren oben«, sagte Litsi.»Sie kamen zu mir und sagten, da sei zwar nichts besonders Gefährliches, aber ich hätte natürlich nicht raufgehen sollen.«
«Wir fahren noch mal hin«, sagte ich, und obwohl Danielle einwandte, sie käme zu spät zur Arbeit, kehrten wir um.