Ich ließ Litsi und Danielle im Wagen zurück, ging durch das Tor und stieg die A-Tribüne hinauf. Wie bei den meisten Tribünenbauten war es weit bis obenhin, der Treppenaufgang nicht der geräumigste, und wenn man sich vorstellte, daß ein Strom von Menschen da hinauf zum Hauptrang drängte, begriff man, wieso diejenigen, die losgezogen waren, um Litsi von oben zu retten, ziemlich lange für den Weg gebraucht hatten.
Die breiten Sitzreihen der A-Tribüne gingen bis auf den Boden hinunter und waren von der Bahn her direkt zugänglich, doch die obere Etage konnte man nur über die beiden Außentreppen erreichen.
Ich nahm die Treppe in der Nähe des Waageraums, denn sie hatte Litsi, wie er sagte, benutzt, um zu der Stelle zu kommen, wo er das Gleichgewicht verloren hatte. Sah man vom Boden aus zur Rückseite der Tribüne hinauf, war diese Stelle nicht weit vom Ende des Balkons, linker Hand.
Die Treppe führte zunächst zu den oberen Reihen des Hauptranges und dann weiter hinauf, und ich kletterte in den letzten Stock, wo sich der Erfrischungsraum im Bau befand. Der ganze Bereich war bis auf den offenen Balkon verglast worden. Der Balkon lief auf der Rückseite des Erfrischungsraums an mehreren Glastüren entlang, die jetzt verschlossen waren, später aber zu belegten Broten führen würden. Vor und hinter dem Glas türmte sich eine Fülle von Baumaterial — Bretter, Farbkübel und Leitern.
Ich ging vorsichtig auf den kalten, windigen Balkon hinaus, den gleichen Weg wie Litsi, und erkannte, was sehr wahrscheinlich passiert war. Bretter lagen dicht an dicht und zu mehreren übereinander in dem kurzen Durchgang zum Balkon und hoben einen, wenn man dort entlanglief, höher als normal im Verhältnis zu der brusthohen Außenwand. Als ich über die Bretter ging, schien die Mauer vor mir kaum taillenhoch zu sein, und Litsi war acht bis zehn Zentimeter größer als ich.
Was immer unter Litsis Füßen gewippt hatte, wippte nun nicht mehr, aber einige Bretter an der Balkonwand lagen kreuz und quer übereinander, nicht aufgeschichtet wie auf dem Gang. Ich bahnte mir vorsichtig einen Weg zwischen ihnen, merkte, wie sie sich bewegten, wenn ich anstieß, und erreichte die Stelle, wo Litsi gestürzt war.
Die Füße fest am Boden, schaute ich hinunter. Man konnte den ganzen Bereich des Führrings wunderschön sehen, mit herrlichen Hügeln im Hintergrund. Sehr reizvoll, dieser Balkon, und sofern die Füße auf dem Boden waren, sehr sicher.
Ich ging ihn ganz entlang, weil ich vorhatte, die Treppe am anderen Ende, in der Nähe des Parkplatzes, hinunterzugehen, doch das erwies sich als unmöglich: Die Treppe war nicht da, sie wurde gerade neu gebaut. Ich kehrte auf die Seite zurück, wo ich heraufgekommen war, überquerte noch einmal die Bretter und ging hinunter auf den Platz.
«Nun?«fragte Litsi, als ich wieder im Wagen saß.»Was meinen Sie?«
«Diese Bretter sahen ganz schön gefährlich aus.«
«Ja«, sagte er kläglich.»Nachdem ich das Gleichgewicht verloren und noch irgendwie die Mauer zu fassen bekommen hatte, dachte ich, ich müßte mich nur festhalten, dann käme mir schon jemand zu Hilfe, aber, na ja… meine Finger gaben einfach nach… ich habe nicht bewußt losgelassen. Als ich fiel, dachte ich, ich würde sterben… und ich wäre ja auch gestorben… es ist unglaublich, daß alle diese Leute ihre Mäntel ausgezogen haben. «Er hielt inne.»Ich wünschte, ich könnte ihnen dafür danken«, sagte er.
«Ich konnte mir nicht vorstellen, wo du geblieben warst«, dachte Danielle zurück.»Ich hatte auf der Tribüne gewartet, wo wir uns treffen wollten, wenn ich von der Toilette wiederkam. Wo dachte ich denn.«
«Aber«, sagte Litsi,»ich bin doch auf den Balkon gegangen, weil ich dich dort oben treffen sollte, Danielle.«
Ich hielt abrupt den Wagen an.
«Sagen Sie das noch mal«, sagte ich.
Kapitel 13
Litsi sagte es nochmal.»Man hatte mir Nachricht gegeben, daß Danielle mich des Ausblicks wegen auf dem Balkon erwarte.«
«Ich habe dir nichts dergleichen ausrichten lassen«, sagte Danielle verdutzt.»Ich hab da auf dich gewartet, wo wir uns das Rennen vorher angesehen hatten, wie abgesprochen.«
«Wer hat Ihnen die Nachricht überbracht?«fragte ich Litsi.
«Irgendein Mann.«
«Wie sah er aus?«
«Tja… ein Durchschnittsmensch. Nicht grade jung. Er trug eine Sporting Life bei sich und eine Art Rennkalender, da hatte er den Finger als Lesezeichen drin… und ein Fernglas.«
«Was für eine Stimme?«
«Ganz… normal.«
Ich löste seufzend die Bremse und startete in Richtung Chiswick. Litsi war mitten in eine Falle hineinmarschiert, die ihn entweder erschrecken oder ihn töten sollte. Und niemand anders als Henri Nanterre konnte sie gestellt haben. Ich hatte Nanterre nicht auf dem Rennplatz ausgemacht, und weder Litsi noch Danielle kannten ihn vom Sehen.
Wenn Nanterre für die Falle verantwortlich war, hatte er gewußt, wo Litsi an dem Tag sein würde, und das konnte er nur durch Beatrice erfahren haben. Ich nahm nicht an, daß sie geahnt hatte, zu welchem Zweck ihre kleine Information verwendet werden würde, und mir kam der Gedanke, daß es mir auch gar nicht recht wäre, wenn sie es erfuhr. Es war wichtig, daß Beatrice weiterhin plauderte.
Litsi und Danielle saßen still im Fond und hingen sicher ganz ähnlichen Gedanken nach. Sie protestierten allerdings, als ich sie bat, Beatrice nichts von der fingierten Nachricht zu erzählen.
«Aber das muß sie erfahren«, sagte Danielle heftig.»Dann wird sie einsehen, daß sie das einfach nicht darf. Sie wird damit aufhören, begreift sie erst mal, wozu dieser Mensch imstande ist.«
«Ich möchte nicht, daß sie jetzt gleich damit aufhört«, erwiderte ich.»Nicht vor Dienstag.«
«Wieso denn das? Wieso Dienstag?«
«Wir werden tun, was Kit möchte«, sagte Litsi.»Ich erzähle Beatrice nur, was ich auch den Leuten auf der Rennbahn erzählt habe: daß ich wegen des Ausblicks raufgegangen bin.«
«Sie ist gefährlich«, versetzte Danielle.
«Ich weiß nicht, wie wir Nanterre ohne sie kriegen sollen«, sagte ich.»Also sei ein Schatz.«
Ich war mir nicht sicher, ob es gerade dieses Wort war, das sie zum Schweigen brachte, aber sie erhob keine Einwände mehr, und wir fuhren eine Zeitlang, ohne etwas Wesentliches zu sagen. Litsis Arme und Schultern schmerzten von der Anstrengung des langen Festhaltens an der Mauer, und hin und wieder rückte er unbehaglich, mit leisem Schnaufen, auf seinem Sitz.
Ich dachte wieder über den Mann nach, der die irreführende Nachricht überbracht hatte, und fragte Litsi, ob er ganz sicher sei, daß der Mann den Namen» Danielle «genannt habe.
«Absolut«, antwortete Litsi ohne Zögern.»Das erste, was er mir sagte, war: >Kennen Sie eine Danielle?< Als ich das bejahte, sagte er, sie wolle, daß ich die Treppe hoch zum Balkon gehe und einen Blick auf die Aussicht werfe. Er zeigte mit dem Finger rauf. Also bin ich los.«
«Okay«, sagte ich.»Dann wollen wir mal was Konkretes unternehmen.«
Wie fast jeder in der Rennwelt hatte ich ein Telefon in meinem Wagen, und ich rief den Towncrier an und verlangte die Sportredaktion. Ich wußte zwar nicht genau, ob ihr Turfreporter, Bunty Ireland, um die Zeit im Büro war, aber ich hatte Glück. Er war nicht in Bradbury gewesen. Im allgemeinen fuhr er nur zu den größeren Meetings, die anderen kommentierte er vom Schreibtisch aus.
«Ich möchte eine Anzeige aufgeben«, sagte ich ihm,»aber sie muß auf der Rennseite erscheinen, und zwar an auffälliger Stelle.«
«Brauchen Sie was zum Reiten?«fragte er sardonisch.»Ein Roß für das Grand National? Hab Sattel, bin nicht ortsgebunden, so in der Art?«
«Jaja«, sagte ich.»Sehr witzig. «Bunty hatte einen elefantenartigen Sinn für Humor, war aber herzensgut.»Schreiben Sie mal den genauen Wortlaut auf und überreden Sie den Rennseitenmacher, daß er es schön groß in auffälliger Schrift bringt.«