Er überflog den trockenen und dann den Wassergraben. Er zog über die letzten drei Hindernisse auf der Gegengeraden. Er führte mit gut dreißig Metern um den ganzen letzten Bogen.
Noch drei Hindernisse.
Er hatte die Ohren gespitzt, war guter Dinge. Die Vorsicht hatte längst den Kampf verloren, bei ihm wie bei mir. Er ging in vollem Renntempo über Nummer eins, Nummer zwei und Nummer drei, wobei ich fast auf seinem Hals lag, um mit ihm schrittzuhalten, das Gewicht nach vorn, den Kopf nahe seinem Kopf.
Er ermüdete an der Steigung sehr schnell, wie ich befürchtet hatte. Ich mußte ihn durchbringen, aber ich spürte, wie er ans Wanken und Taumeln kam und mir sagte, er sei weit genug gelaufen.
«Komm, halt dich, wir haben’s fast geschafft, lauf nur weiter, einfach weiter, du alter Krampen, wir verlieren doch jetzt nicht mehr, wir sind so nah dran, also lauf…«
Ich konnte die Menge brüllen hören, was normalerweise nicht der Fall war. Hinter mir hörte ich ein anderes Pferd mit dumpfen Hufschlägen herankommen. Ich konnte es am Rand meines Gesichtsfeldes sehen, der Arm des Jok-keys sauste hoch durch die Luft, da er spürte, daß Abseil nachließ… und diesmal kam das Ziel gerade rechtzeitig für mich, nicht drei Schritte zu spät.
Abseil war stolz auf sich, was ihm auch zustand. Ich tätschelte ausgiebig seinen Nacken und sagte ihm, er sei in Ordnung, er habe gute Arbeit geleistet, ein wirklich großartiger Bursche, und er trottete mit immer noch gespitzten Ohren und federnden Fesseln zum Absattelplatz.
Die Prinzessin war aufgeregt und froh wie immer nach einem knapp gewonnenen Rennen.
Ich saß ab, lächelte sie an und begann die Gurte aufzuschnallen.
«Und das«, sagte sie ohne Kritik,»nennen Sie sanft sein?«
«Ich würde es als unwiderstehlichen Drang bezeichnen«, erwiderte ich.
Abseil verbeugte sich praktisch vor der Menge, wußte, daß der Applaus ihm gegolten hatte. Ich tätschelte nochmals dankend seinen Hals. Er warf den grauen Kopf hoch, drehte ihn, um mich aus beiden Augen anzusehen, blies durch die Nüstern und nickte.
«Sie reden mit Ihnen«, sagte die Prinzessin.
«Manche ja.«
Ich schlang die Gurte um meinen Sattel, drehte mich um, da ich zum Zurückwiegen wollte, und Maynard Allardeck stand mir direkt im Weg, ähnlich wie Henry Nanterre in Newbury. Maynards Haßgefühle kamen eindeutig herüber.
Ich blieb stehen. Ich redete ungern mit ihm, weil er alles, was ich sagte, übelnahm. Einer von uns mußte nachgeben, und das würde ich sein, denn bei jeder Konfrontation zwischen einem Steward und einem Jockey zog der Jockey den kürzeren.
«Ach, Mr. Allardeck«, die Prinzessin trat an meine Seite,»wollten Sie mir gratulieren? War das nicht ein wunderschöner Sieg?«
Maynard nahm seinen Hut ab und sagte beherzt, er freue sich sehr, daß sie Glück gehabt habe, zumal ihr Jockey viel zu früh in Front gegangen sei und das Rennen beim Einlauf fast verschenkt habe.
«Oh, aber Mr. Allardeck«, hörte ich sie säuseln, als ich höflich um Maynard herumging und die Tür des Waageraums ansteuerte,»hätte er nicht so einen Vorsprung herausgeholt, dann hätte er sich nicht bis zum Schluß halten können.«
Sie war eine großartige Frau, dachte ich froh, als ich auf der Waage saß; anders als viele Besitzer verstand sie wirklich den Ablauf eines Rennens.
Maynard machte mir trotzdem Sorgen, denn es sah ganz so aus, als versuche er eine Rempelei mit mir zu provozieren, und ich mußte so gut wie für alle Zukunft höllisch aufpassen, daß ich jede körperliche Berührung vermied. Der Film, den ich über ihn gedreht hatte, würde zwar seine Glaubwürdigkeit zerstören, wenn es darauf ankam, aber er war ein letztes Mittel zur Verteidigung. Man durfte ihn nicht leichtfertig verwenden, da er auch Bobby und Holly vor Maynards Besessenheit schützte, nicht nur mich selbst. Wenn ich davon Gebrauch machte, wäre Maynards Leben zwar ruiniert, aber seine ganze Wut würde entfesselt. Er hätte nichts mehr zu verlieren, und wir alle wären wirklich in Gefahr.
Inzwischen gab es wie immer noch Rennen zu bestreiten. Ich ritt noch zweimal ohne Vorsicht — und da die Götter gnädig waren, auch ohne Bauchlandung — vom Start zum Ziel. Maynard funkelte bös weiter, und ich blieb betont höflich und rettete mich irgendwie unversehrt in die Teestunde.
Ich zog Straßenkleidung an, ging zur Loge der Prinzessin hinauf und stellte fest, daß außer Litsi und Danielle Lord Vaughnley bei ihr war. Von Beatrice keine Spur.
«Mein Lieber«, sagte Lord Vaughnley, sein dickes, freundliches Gesicht voller Güte,»ich bin gekommen, um Prinzessin Casilia zu gratulieren. Bravo, bravo, mein Lieber, ein taktisch kluges Rennen.«
«Danke«, sagte ich mild.
«Und gestern auch. Das war famos, einfach prima.«
«Ich hatte gestern keine Starter«, sagte die Prinzessin lächelnd.
«Nein, nein, kein Sieg. Dem Kerl das Leben zu retten, meine ich doch, bei dem Rennen in Bradbury.«
«Welchem Kerl?«fragte die Prinzessin.
«So ein Kamel, das irgendwohin ging, wo es nichts zu suchen hatte, und von einem Balkon gefallen ist. Hat Kit Ihnen das nicht erzählt? Nein«, überlegte er,»das hätte mich auch gewundert. Wie auch immer, es ist den ganzen Nachmittag schon das Gesprächsthema, und es stand in fast allen Zeitungen.«
«Ich habe heute morgen keine Zeitung gelesen«, sagte die Prinzessin.
Lord Vaughnley gab ihr entgegenkommend einen ausführlichen Bericht aus zweiter Hand über die Vorgänge, der im wesentlichen zutraf. Litsi und Danielle schauten angelegentlich aus dem Fenster, und ich wünschte, ich hätte die Sahnetörtchen essen können, und schließlich gingen Lord Vaughnley die Superlative aus.
«Übrigens«, sagte er zu mir und ergriff einen großen braunen Umschlag, der auf dem Teetisch lag,»das ist für Sie. Alles, was wir finden konnten. Hoffentlich hilft’ s Ihnen weiter. «Er hielt mir das Kuvert hin.
«Vielen Dank«, sagte ich und nahm es an mich.
«Fein«, strahlte Lord Vaughnley.»Ihnen, Prinzessin, herzlichen Dank für den Tee. Und nochmals meinen Glückwunsch. «Er ging, umhüllt von Wolken des Wohlwollens und ließ die Prinzessin staunend zurück.
«Ihr wart doch in Bradbury«, sagte die Prinzessin zu Danielle und Litsi.»Habt ihr das alles mitbekommen?«
«Nein«, antwortete Danielle.»Wir haben es heute morgen in der Sporting Life gelesen.«
«Warum habt ihr’s mir nicht gesagt?«
«Kit wollte kein Aufhebens.«
Die Prinzessin sah mich an. Ich sagte achselzuckend:»Stimmt, das wollte ich nicht. Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, Prinzessin, wenn Sie Mrs. Bunt nichts davon erzählen würden.«
Sie kam nicht dazu, mich nach dem Grund zu fragen, da Beatrice wie aufs Stichwort wiederauftauchte und die Loge mit einem selbstgefälligen Lächeln betrat, das sich sichtlich verstärkte, als sie sah, daß ich dort war. Ohne mich aus den Augen zu lassen, verzehrte sie mit Genuß ein Sahnetörtchen, als weidete sie sich geradezu an meinem Hunger. Das war leichter zu ertragen, dachte ich ironisch, als die meisten anderen Widrigkeiten an diesem Tag.
Die Prinzessin sagte Beatrice, es sei Zeit aufzubrechen, das letzte Rennen sei ja längst vorbei, und bugsierte sie hinunter zum Rolls. Litsi hatte keine Möglichkeit, mit ihnen zu fahren, selbst wenn er gewollt hätte, da sich Danielle den ganzen Weg zum Parkplatz fest an seinen Arm klammerte. Sie mochte nach ihren nächtlichen Erklärungen nicht mit mir allein sein, und ich begriff — und hatte es wohl schon den ganzen Tag geahnt —, daß sie ohne seinen Beistand überhaupt nicht hätte mitkommen können. Auch am nächsten Tag waren wieder Rennen in Sandown, und ich überlegte, ob es nicht weniger anstrengend für alle Beteiligten wäre, wenn sie zu Hause bliebe.
Als wir zum Auto kamen, setzte sich Litsi auf Danielles Drängen nach vorn, sie selbst nach hinten, und bevor ich den Motor anließ, öffnete ich das braune Kuvert, das Lord Vaughnley mitgebracht hatte.