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»Ach, wirklich?« Ich war lächerlich erleichtert, das zu hören. Gerade wollte ich fragen, ob die tiefen Linien, die quer über mein Handgelenk liefen, etwas zu bedeuten hatten (einen möglichen Hang zum Selbstmord?!), doch da wurden wir unterbrochen, weil Reverend Wakefield mit den leeren Teetassen in die Küche kam. Er stellte sie auf das Spülblech und fing an, laut und ungeschickt im Schrank daneben zu kramen, offensichtlich in der Hoffnung, Hilfe herbeizurufen.

Mrs. Graham sprang auch prompt auf, um die Unversehrtheit ihrer Küche zu verteidigen. Sie schob den Reverend geübt beiseite und begann, neue Teeutensilien für das Studierzimmer auf das Tablett zu stellen. Mr. Wakefield zog mich etwas zur Seite, so dass wir seiner Haushälterin nicht im Weg waren.

»Wollen Sie nicht ins Studierzimmer kommen und mit mir und Ihrem Mann noch eine Tasse Tee trinken, Mrs. Randall? Wir haben eine sehr zufriedenstellende Entdeckung gemacht.«

Ich konnte sehen, dass er trotz seiner äußerlichen Gefasstheit geradezu platzte vor Freude über den Fund – wie ein kleiner Junge mit einer Kröte in der Tasche. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als mitzugehen und Hauptmann Jonathan Randalls Wäschereirechnung, die Quittung für seine Stiefelreparatur oder ein ähnlich faszinierendes Dokument zu lesen.

Frank war derart in den zerknitterten Dokumenten versunken, dass er wieder nur flüchtig aufblickte, als ich das Studierzimmer betrat. Widerstrebend überließ er sie den kräftigen Händen des Reverends und stellte sich dann hinter Mr. Wakefield, um ihm über die Schulter zu blicken, so als könnte er es nicht ertragen, die Papiere einen einzigen Moment aus den Augen zu lassen.

»Ja?«, sagte ich meinerseits nun höflich und betastete die schmuddeligen Zettel. »Ähm, ja, sehr interessant.« Tatsächlich war die krakelige Handschrift so verblichen und verschnörkelt, dass es kaum die Mühe wert schien, sie zu entziffern. Ein Blatt, das besser erhalten war als der Rest, trug eine Art Wappen.

»Der Herzog von … heißt das Sandringham?«, fragte ich und blinzelte auf das Wappen mit dem liegenden Leoparden und den gedruckten Lettern darunter, die besser lesbar waren als die Handschrift.

»Ja, richtig«, sagte der Reverend und strahlte jetzt wie ein Weihnachtsbaum. »Ein Titel, den es heute nicht mehr gibt, wissen Sie.«

Das wusste ich zwar nicht, aber ich nickte so verständnisvoll, als ob, da ich mit Historikern im manischen Griff ihrer Entdeckungen bestens vertraut war. Man musste selten mehr tun, als hin und wieder zu nicken und in angemessenen Abständen »Oh, tatsächlich?« oder »Wie ausgesprochen faszinierend!« zu sagen.

Nachdem sich Frank und Mr. Wakefield einige Male gegenseitig den Ball zugeworfen hatten, fiel Letzterem die Ehre zu, mir von ihrer Entdeckung zu erzählen. Offensichtlich ließ dieses ganze Durcheinander darauf schließen, dass Franks Vorfahr, der berüchtigte Black Jack Randall, nicht nur ein tapferer Soldat der Krone gewesen war, sondern obendrein – ganz vertraulich – Agent des Herzogs von Sandringham.

»Beinahe ein agent provocateur, würden Sie das nicht auch sagen, Dr. Randall?« Der Reverend reichte den Ball großzügig an Frank weiter, der ihn ergriff und begeistert damit loslief.

»Ja, in der Tat. Der Wortlaut ist natürlich sehr zurückhaltend …« Er drehte die Papiere sanft mit seinem makellosen Zeigefinger um.

»Oh, tatsächlich?«, sagte ich pflichtbewusst.

»Doch das hier lässt darauf schließen, dass Jonathan Randall die Aufgabe hatte, die prominenten Familien in dieser Gegend dazu zu bringen, jakobitisches Gedankengut zu äußern, falls sie denn solches hegten. Damit wollten sie die Barone und Clanhäuptlinge ausräuchern, deren Sympathien möglicherweise insgeheim in diese Richtung gingen. Aber – das ist jetzt wirklich seltsam. Stand Sandringham nicht selbst unter dem Verdacht, Jakobit zu sein?« Frank wandte sich dem Reverend zu, ein fragendes Stirnrunzeln im Gesicht. Auf Wakefields glattem, kahlem Kopf erschienen identische Falten.

»Oh, ja, ich glaube, damit haben Sie recht. Aber halt, sehen wir doch bei Cameron nach.« Er sprang auf und hielt auf das Bücherregal zu, das mit ledergebundenen Wälzern vollgestopft war. »Er erwähnt Sandringham bestimmt.«

»Wie ausgesprochen faszinierend«, murmelte ich wiederum artig und ließ meine Aufmerksamkeit zu der riesigen Korkwand hinüberwandern, die eine ganze Wand des Studierzimmers vom Boden bis zur Decke einnahm.

Sie war mit einem erstaunlichen Sammelsurium von Dingen bedeckt; zum Großteil waren es irgendwelche Papiere, Benzinquittungen, Korrespondenz, Benachrichtigungen des Diözesankonzils, lose Buchseiten, handschriftliche Notizen des Reverends, aber auch kleine Gegenstände wie Schlüssel, Flaschendeckel und anscheinend sogar kleine Autoteile, alles befestigt mit Heftzwecken und Bindfäden.

Ich stand auf und stöberte gedankenverloren in dem Mischmasch herum, während ich mit halbem Ohr der Diskussion in meinem Rücken folgte. (Wahrscheinlich war der Herzog von Sandringham Jakobit, beschlossen sie.) Mein Augenmerk fiel auf einen Stammbaum, der mit besonderer Sorgfalt an einer separaten Stelle hing und mit vier Heftzwecken befestigt war, in jeder Ecke einer. Ganz oben waren Namen notiert, die auf das frühe siebzehnte Jahrhundert datiert waren. Doch es war der Name am unteren Ende des Stammbaums, der meine Aufmerksamkeit erregte: »Roger W. (MacKenzie) Wakefield«, stand dort.

»Entschuldigung«, sagte ich und unterbrach damit einen letzten Wortschwall bezüglich der Frage, ob der Leopard im Wappen des Herzogs eine Lilie in der Pranke hatte – oder sollte das gar ein Krokus sein? »Ist das der Stammbaum Ihres Sohns?«

»Wie? Oh, äh, ja, das ist er.« Zerstreut eilte der Reverend herbei, begann aber nun abermals zu strahlen. Er löste den Stammbaum mit sanfter Hand von der Wand und legte ihn vor mir auf den Tisch.

»Ich wollte nämlich nicht, dass er seine eigene Familie vergisst«, erklärte er. »Seine Abstammung lässt sich weit zurückverfolgen, bis ins siebzehnte Jahrhundert.« Sein rundlicher Zeigefinger zeichnete die Abstammungslinie beinahe ehrfürchtig nach.

»Ich habe ihm meinen eigenen Namen gegeben, weil es mir passender erschien, denn er lebt ja hier. Aber ich wollte nicht, dass er vergisst, woher er kommt.« Er verzog entschuldigend das Gesicht. »Meine eigene Familie hat leider genealogisch nicht viel zu bieten. Vikare und andere Geistliche, zur Abwechslung hin und wieder ein Buchhändler, und sie lässt sich nur bis 1762 oder so zurückverfolgen. Erbärmliche Aktenführung, wissen Sie«, sagte er und schüttelte tadelnd den Kopf über die Lethargie seiner Vorfahren.

Es war schon spät, als wir das Pfarrhaus endlich verließen, und der Reverend versprach, am nächsten Morgen im Ort Kopien der Briefe anfertigen zu lassen. Frank plapperte fast auf dem gesamten Rückweg hingebungsvoll über Spione und Jakobiten. Schließlich jedoch fiel ihm auf, wie still ich war.

»Was ist mit dir, Schatz?«, fragte er und nahm mitfühlend meinen Arm. »Geht es dir nicht gut?« Im Ton dieser Frage mischte sich Sorge mit Hoffnung.

»Nein, mir geht es bestens. Ich musste nur …« Ich zögerte, weil wir dieses Thema bereits besprochen hatten. »Ich musste an Roger denken.«

»Roger?«

Ich stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Also wirklich, Frank. Du kannst so … so ein Ignorant sein! Roger, Reverend Wakefields Sohn!«

»Oh, der. Ja, natürlich«, sagte er vage. »Nettes Kind. Was ist denn mit ihm?«

»Nun ja … nur, dass es viele Kinder gibt wie ihn. Waisenkinder, weißt du.«

Er sah mich scharf von der Seite her an und schüttelte den Kopf.

»Nein, Claire. Ich würde es ja wirklich gerne tun, aber ich habe dir schon ein paarmal gesagt, wie ich über eine Adoption denke. Es ist einfach … Na ja, ich könnte keine richtigen Gefühle für ein Kind entwickeln, das nicht … tja, nicht von meinem Blut ist. Das ist bestimmt lächerlich und egoistisch von mir, aber so ist es nun einmal. Vielleicht ändere ich ja irgendwann meine Meinung, aber im Moment …« Wir gingen ein paar Schritte in geladenem Schweigen weiter. Plötzlich blieb er stehen, wandte sich mir zu und nahm meine Hände.