»Warum holst du sie dir nicht?«, schlug er vor. »Vielleicht leiht dir Mr. Crook ja seine alte Rumpelkiste, oder … nein, ich habe eine bessere Idee. Leih dir Mrs. Bairds Auto, das ist sicherer. Der Weg von der Straße zum Fuß des Hügels ist ja nicht weit.«
»Und dann geht es ja nur noch einen Kilometer schnurgerade bergauf«, stöhnte ich. »Wieso interessierst du dich überhaupt so für diese Pflanze?« Ich drehte mich, um ihn anzusehen. Die Wohnzimmerlampe umrandete seinen Kopf mit einer schmalen goldenen Linie wie eine mittelalterliche Heiligenradierung.
»Mir geht es nicht um die Pflanze. Doch wenn du sowieso dorthin möchtest, wäre es nett, wenn du dich einmal kurz an der Außenseite des Steinkreises umsehen könntest.«
»Also schön«, stimmte ich pflichtschuldigst zu. »Wonach denn?«
»Nach Spuren von Feuer«, sagte er. »In allen Quellen, die ich über das Beltanefest lesen konnte, ist jedes Mal von Feuer bei den Ritualen die Rede. Aber die Frauen, die wir heute Morgen beobachten konnten, haben keins benutzt. Ich frage mich deshalb, ob sie das Beltanefeuer vielleicht am Abend vorher entzündet haben und am Morgen für den Tanz zurückgekehrt sind. Obwohl es historisch die Kuhhirten sind, die das Feuer machen sollten. Im Inneren des Kreises war nichts von einem Feuer zu sehen«, fügte er hinzu. »Und wir sind ja gegangen, ehe ich auf die Idee gekommen bin, die Außenseite zu überprüfen.«
»Also schön«, wiederholte ich und gähnte. Das zweimalige frühe Aufstehen an zwei Tagen forderte allmählich seinen Tribut. Ich schloss das Buch und stand auf. »Aber nur, wenn ich nicht vor neun aufstehen muss.«
Tatsächlich war es fast elf, ehe ich den Steinkreis erreichte. Es nieselte, und ich war nass bis auf die Haut, weil ich nicht daran gedacht hatte, einen Regenmantel mitzunehmen. Ich sah mich oberflächlich an der Außenseite des Kreises um, doch wenn es dort tatsächlich ein Feuer gegeben hatte, hatte sich jemand alle Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen.
Die Pflanze war einfacher zu finden. Sie wuchs dort, wo ich sie in Erinnerung hatte, am Fuß des höchsten Steins. Ich schnitt einige Stiele ab und verstaute sie erst einmal in meinem Taschentuch. Ordentlich unterbringen würde ich sie, wenn ich zu Mrs. Bairds Auto zurückgekehrt war, wo ich eine der schweren Pflanzenpressen zurückgelassen hatte.
Der größte Stein des Kreises war durch einen vertikalen Riss in zwei massive Stücke gespalten. Seltsamerweise waren die beiden Teile durch irgendetwas auseinandergezogen worden. Man konnte zwar sehen, dass die gegenüberliegenden Oberflächen zueinander passten, doch sie waren durch eine Lücke von fast einem Meter Breite getrennt.
Irgendwo in der Nähe ertönte ein tiefes Summen. Ich dachte, es gäbe vielleicht einen Bienenstock in einer Spalte des Felsens, und legte eine Hand auf den Stein, um mich in den Spalt zu beugen.
Der Stein schrie.
Ich wich zurück, so schnell ich konnte und so hastig, dass ich auf dem kurzen Gras stolperte und im Sitzen landete. Ich starrte den Stein an, und mir brach der Schweiß aus.
Ein solches Geräusch hatte ich noch nie gehört, selbst von einem lebenden Wesen nicht. Es ist unmöglich, es zu beschreiben, außer indem man sagt, dass es die Art Schrei war, die man von einem Stein erwarten würde. Es war grauenvoll.
Die anderen Steine begannen zu rufen. Ich hörte Schlachtenlärm und die Schreie sterbender Männer und verwundeter Pferde.
Ich schüttelte heftig den Kopf, doch das Lärmen hörte nicht auf. Ich erhob mich stolpernd und wankte auf den Rand des Kreises zu. Die Geräusche waren überall, so dass meine Zähne schmerzten und mir schwindelig wurde. Alles verschwamm mir vor den Augen.
Ich weiß nicht, ob ich bewusst auf die Spalte in dem großen Stein zuging oder ob es zufällig geschah, während ich blindlings durch den Nebel aus Geräuschen driftete.
Einmal bin ich des Nachts auf dem Beifahrersitz eines fahrenden Autos eingeschlafen, durch Fahrgeräusche und Bewegung eingelullt in eine Illusion schwereloser Gelassenheit. Der Fahrer des Wagens überquerte eine Brücke zu schnell und geriet ins Schleudern. So wurde ich aus meinem schwebenden Traum in die gleißende Helligkeit der Scheinwerfer gerissen und in das übelkeiterregende Gefühl, mit großer Geschwindigkeit zu fallen. Dieser abrupte Übergang kam dem, was ich jetzt erlebte, am nächsten, aber es ist trotzdem nur eine notdürftige Beschreibung.
Ich könnte sagen, dass sich mein Gesichtsfeld zu einem einzigen dunklen Fleck zusammenzog und dann ganz verschwand, wobei es allerdings keine Dunkelheit hinterließ, sondern leuchtende Leere. Ich könnte sagen, dass ich das Gefühl hatte, mich zu drehen, oder als würde mein Inneres nach außen gekehrt. All das trifft zu, und doch drückt nichts davon dieses Gefühl völliger Zerrissenheit aus, das ich empfand, das Gefühl, mit voller Wucht gegen etwas geschleudert zu werden, das gar nicht da war.
Die Wahrheit ist, dass sich nichts bewegte, nichts veränderte, eigentlich gar nichts zu geschehen schien, und doch empfand ich ein derart elementares Grauen, dass ich jedes Gefühl dafür verlor, wer, was oder wo ich war. Ich befand mich im Herzen des Chaos, gegen das mir keinerlei körperliche oder geistige Macht helfen konnte.
Eigentlich kann ich nicht sagen, dass ich das Bewusstsein verlor, doch es war auf jeden Fall so, dass ich mir meiner selbst zunächst nicht bewusst war. Ich »erwachte«, falls das denn das Wort ist, als ich fast am Fuß des Hügels über einen Felsen stolperte. Halb rutschte ich die letzten Meter und wurde unten durch ein dichtes Grasbüschel gebremst.
Mir war übel und schwindelig. Ich kroch auf ein paar Eichenschösslinge zu und lehnte mich an einen davon, um mich zu stützen. Irgendwo in der Nähe ertönte wirres Geschrei, das mich wieder an die Geräusche erinnerte, die ich in dem Steinkreis gehört und gespürt hatte. Doch hier gab es kein Echo unmenschlicher Gewalt; dies war der normale Klang eines menschlichen Konfliktes, und ich wandte mich danach um.
Kapitel 3
Der Mann im Wald
Die Männer waren ein ganzes Stück von mir entfernt, als ich sie schließlich sah. Zwei oder drei; sie trugen Kilts und rannten wie verrückt über eine kleine Lichtung. In der Ferne ertönten knallende Geräusche, die ich benommen als Schüsse identifizierte.
Ich war mir ziemlich sicher, dass ich immer noch halluzinierte, als das Geräusch der Schüsse vom Auftreten von fünf oder sechs Männern gefolgt wurde, die rote Röcke und Kniehosen trugen und Musketen schwangen. Blinzelnd starrte ich sie an. Ich hielt mir die Hand vor das Gesicht und hob zwei Finger. Ich sah zwei Finger, so weit war alles korrekt. Ich sah nicht verschwommen. Ich schnupperte vorsichtig. Der durchdringende Geruch der Bäume im Frühling und ein Hauch Klee von einem Büschel zu meinen Füßen. Keine olfaktorischen Sinnestäuschungen.
Ich betastete meinen Kopf. Er schmerzte nirgendwo. Gehirnerschütterung also unwahrscheinlich. Puls leicht beschleunigt, aber regelmäßig.
Der Klang der fernen Schreie veränderte sich abrupt. Ich hörte Hufe herandonnern, und mehrere Pferde kamen auf mich zugerast, darauf in Kilts gehüllte Schotten, die gälisches Gejodel ausstießen. Ich warf mich mit solcher Beweglichkeit zur Seite, dass der Beweis erbracht schien, dass mir körperlich nichts fehlte, ganz gleich, wie es um meinen Geisteszustand bestellt sein mochte.
Und dann begriff ich. Einer der Rotröcke wurde von einem flüchtenden Schotten zu Boden geworfen, erhob sich wieder und schwenkte den Pferden theatralisch die Faust hinterher. Natürlich. Ein Film! Ich schüttelte den Kopf über meine eigene Begriffsstutzigkeit. Sie drehten irgendeinen Kostümfilm, das war alles. Bestimmt eine dieser Bonnie-Prince-Charlie-Geschichten.
Nun ja. Ganz gleich, wie künstlerisch wertvoll der Film werden mochte oder nicht, seine Macher würden es mir nicht danken, wenn ich ihnen die historische Authentizität ruinierte. Ich wich in den Wald zurück, um einen weiten Bogen um die Lichtung zu schlagen und wieder auf die Straße zu kommen, auf der ich das Auto zurückgelassen hatte. Doch ich kam schlechter voran, als ich erwartet hatte. Der Wald war noch jung, und das dichte Unterholz zerrte an meinen Kleidern. Ich musste mich vorsichtig zwischen den dürren Schösslingen hindurchbewegen und im Gehen immer wieder meinen Rock aus den Brombeeren befreien.