»Du bist nicht tot. Ich habe nachgesehen.« Mit leisem Zögern fragte ich: »Wärst du denn gern tot?«
Er lächelte langsam, und seine Augen schlossen sich halb. »Nein, Sassenach, das wäre ich nicht.« Sein Gesicht war eingefallen und von Krankheit und Erschöpfung gezeichnet, doch friedvoll, die Furchen rings um seinen Mund hatten sich geglättet, und seine blauen Augen waren klar. »Aber ich bin verdammt dicht daran, ob ich es will oder nicht. Der einzige Grund, warum ich glaube, dass ich jetzt nicht sterben werde, ist, dass ich Hunger habe. Ich hätte doch keinen Hunger, wenn ich im Sterben läge, oder? Das wäre schließlich Verschwendung.« Ein Auge schloss sich ganz, doch das andere blieb halb offen und heftete sich mit einem seltsamen Ausdruck auf mein Gesicht.
»Du kannst nicht aufstehen?«
Er überlegte sorgfältig. »Wenn mein Leben davon abhinge, könnte ich vielleicht den Kopf wieder heben. Aber aufstehen? Nein.«
Mit einem Seufzer wand ich mich unter ihm hervor und richtete das Bett auf, ehe ich versuchte, ihn auf die Beine zu stellen. Es gelang ihm, einige Sekunden stehen zu bleiben, ehe er die Augen verdrehte und quer über das Bett fiel. Ich tastete panisch nach dem Puls an seinem Hals und fand ihn, langsam und kräftig, gleich unterhalb der dreieckigen Narbe an seinem Halsansatz. Schlichte Erschöpfung. Nach einem Monat im Kerker und einer Woche der völligen körperlichen und geistigen Verausgabung durch Hunger, Verletzungen, Krankheit und hohes Fieber hatte selbst dieser unermüdliche Körper das Ende seiner Kräfte erreicht.
»Ein Herz wie ein Löwe«, sagte ich und schüttelte den Kopf, »und ein Schädel wie ein Ochse. Schade, dass du nicht auch eine Haut wie ein Rhinozeros hast.« Ich berührte eine Wunde an seiner Schulter, die wieder blutete.
Er öffnete ein Auge. »Ein Rhinozeros?«
»Ich dachte, du wärst bewusstlos!«
»Das war ich auch. Bin ich. Mein Kopf dreht sich wie ein Kreisel.«
Ich zog eine Decke über ihn. »Was du jetzt brauchst, ist Ruhe und etwas zu essen.«
»Was du jetzt brauchst«, sagte er, »sind Kleider.« Dann schloss er das Auge wieder und schlief auf der Stelle ein.
Kapitel 40
Absolution
Ich konnte mich absolut nicht daran erinnern, wie ich in mein Bett gefunden hatte, doch ich musste es getan haben, denn ich erwachte dort. Anselm saß am Fenster und las.
Ich schoss kerzengerade im Bett hoch.
»Jamie?«, krächzte ich.
»Schläft«, sagte er und legte das Buch beiseite. Er blickte zu der Stundenkerze auf dem Tisch hinüber. »Genau wie Ihr. Ihr habt die letzten sechsunddreißig Stunden bei den Engeln geweilt, ma belle.« Er füllte einen Becher aus einem Tonkrug und hielt ihn mir an die Lippen. Früher hätte ich es als den Gipfel der Dekadenz betrachtet, vor dem Zähneputzen im Bett Wein zu trinken. In einem Kloster, in Gesellschaft eines schwarz berockten Franziskaners, erschien es mir etwas weniger degeneriert. Und der Wein durchdrang das pelzige Gefühl in meinem Mund.
Ich schwang die Füße über die Bettkante und blieb schwankend sitzen: Anselm fing meinen Arm und ließ mich wieder auf das Kissen sinken. Er schien plötzlich vier Augen zu haben und deutlich mehr Nasen und Münder als eigentlich notwendig.
»Mir ist ein wenig schwindelig«, sagte ich und schloss die Augen. Dann öffnete ich das eine wieder. Schon besser. Zumindest war er nur noch einmal da, wenn auch etwas verschwommen an den Rändern.
Anselm beugte sich besorgt über mich.
»Soll ich Bruder Ambrose oder Bruder Polydore holen, Madame? Ich habe unglücklicherweise nur wenig Erfahrung in medizinischen Dingen.«
»Nein, ich brauche nichts. Ich habe mich nur zu plötzlich hingesetzt.« Ich versuchte es noch einmal, diesmal langsamer. Und diesmal blieben das Zimmer und sein Inhalt relativ ruhig. Dafür kamen mir jetzt diverse Prellungen und andere schmerzende Stellen zu Bewusstsein, die vorhin in meinem Schwindelgefühl untergegangen waren. Ich versuchte, mich zu räuspern, und stellte fest, dass meine Kehle schmerzte. Ich verzog das Gesicht.
»Wirklich, ma chère, ich glaube, ich sollte vielleicht …« Anselm stand schon an der Tür bereit, um Hilfe zu holen. Erst als er überzeugt war, dass ich doch nicht zusammenbrechen würde, setzte er sich wieder. Ich nippte langsam an meinem Wein, während mein Kopf allmählich klarer wurde, und ich versuchte, die Nachwirkungen der Opiumträume zu verdrängen. Wir lebten also noch. Beide.
Meine Träume waren chaotisch gewesen, voller Gewalt und Blut. Wieder und wieder hatte ich geträumt, Jamie wäre tot oder läge im Sterben. Und irgendwo in dem Nebel war das Bild des jungen Soldaten im Schnee aufgetaucht, dessen überraschtes rundes Gesicht sich über das Bild von Jamies zerschundenen Zügen legte. Manchmal schien der mitleiderregende dünne Schnurrbart des Jungen in Franks Gesicht aufzutauchen. Deutlich erinnerte ich mich daran, sie alle drei getötet zu haben. Ich fühlte mich, als hätte ich die ganze Nacht mit blutigem Gemetzel verbracht, und mein Körper war bis in den letzten Muskel von dumpfem Schmerz erfüllt.
Anselm war noch da. Er hatte die Hände auf den Knien liegen und beobachtete mich.
»Es gibt etwas, was Ihr für mich tun könntet, Vater«, sagte ich.
Sofort erhob er sich hilfsbereit und griff nach dem Krug.
»Natürlich. Noch etwas Wein?«
Ich lächelte schwach.
»Ja, aber später. Erst hätte ich gern, dass Ihr mir die Beichte abnehmt.«
Er war verblüfft, hüllte sich aber schnell wieder in die ihm eigene Selbstbeherrschung wie in eine Robe.
»Aber natürlich, chère madame, wenn Ihr es wünscht. Doch wäre es nicht besser, wenn ich Vater Gerard hole? Er ist ein erprobter Beichtvater, ich dagegen …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich darf Euch natürlich die Beichte abnehmen, aber offen gestanden tue ich das nur selten, da ich ja nur ein armer Gelehrter bin.«
»Ich möchte, dass Ihr es tut«, sagte ich entschlossen. »Und zwar jetzt.«
Er ergab sich seufzend in sein Schicksal und ging seine Stola holen. Diese legte er sich dann so um die Schultern, dass ihm die violette Seide glatt und schimmernd über die Vorderseite seiner schwarzen Kutte fiel. Dann setzte er sich auf den Hocker, segnete mich kurz und richtete sich wartend auf.
Und ich erzählte ihm alles. Wer ich war und wie ich hierhergekommen war. Von Frank und von Jamie. Und von dem jungen englischen Dragoner mit dem blassen Pickelgesicht, der im Schnee lag und starb.
Seine Miene blieb unverändert, während ich redete, nur seine runden haselgrünen Augen wurden noch runder. Als ich fertig war, blinzelte er ein-, zweimal, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn wieder und schüttelte den Kopf, als müsste er seine Gedanken ordnen.
»Nein«, sagte ich geduldig und räusperte mich erneut; ich krächzte wie ein Ochsenfrosch. »Ihr habt Euch nicht verhört. Und Ihr bildet Euch das alles auch nicht ein. Wisst Ihr jetzt, warum ich wollte, dass Ihr es unter dem Siegel der Beichte hört?«
Er nickte ein wenig zerstreut.
»Ja. Ja, natürlich. Wenn … aber ja. Natürlich, Ihr wollt nicht, dass ich es jemandem erzähle. Und da Ihr es mir unter dem Siegel des Sakraments erzählt, geht Ihr davon aus, dass ich Euch glauben muss. Aber …« Er kratzte sich am Kopf, dann sah er mich an. Ein breites Lächeln zog sich langsam über sein Gesicht.
»Aber wie phantastisch!«, rief er leise aus. »Wie außergewöhnlich und wie wundervoll!«
»›Wundervoll‹ ist nicht ganz das Wort, das ich gewählt hätte«, wandte ich trocken ein, »aber ›außergewöhnlich‹ trifft wohl zu.« Ich hüstelte und streckte die Hand nach dem Wein aus.
»Aber es ist doch … ein Wunder«, sagte er wie zu sich selbst.
»Wenn Ihr darauf besteht«, erwiderte ich und seufzte. »Aber was ich wissen möchte, ist: Was soll ich tun? Bin ich des Mordes schuldig? Oder des Ehebruchs? Nicht, dass ich so oder so viel dagegen tun könnte, aber ich wüsste es gern. Und da ich nun einmal hier bin, wie sollte ich mich verhalten? Kann ich – sollte ich, meine ich – mein Wissen benutzen um … die Dinge zu ändern? Ich weiß ja nicht einmal, ob so etwas möglich ist. Doch wenn es das ist, habe ich das Recht dazu?«