Er richtete sich auf dem Hocker auf und überlegte. Langsam hob er beide Zeigefinger, hielt sie mit den Spitzen aneinander und betrachtete sie ausgiebig. Schließlich schüttelte er den Kopf und lächelte mich an.
»Ich weiß es nicht, ma bonne amie. Ihr versteht gewiss, dass dies eine Situation ist, mit der man bei der Beichte nicht notwendigerweise rechnet. Ich werde darüber nachdenken, und ich werde beten müssen. Ja, vor allem beten. Heute Nacht werde ich über Eure Lage nachdenken, wenn ich vor dem heiligen Sakrament wache. Und vielleicht kann ich Euch morgen einen Rat erteilen.«
Er wies mich sacht an, mich hinzuknien.
»Doch vorerst, mein Kind, spreche ich Euch los. Was auch immer Eure Sünden sein mögen, vertraut darauf, dass sie Euch vergeben werden.«
Er hob eine Hand zum Segen und legte mir die andere unter das Kinn. »Te absolvo, in nomine Patri, et Filii …«
Er erhob sich und zog mich ebenfalls hoch.
»Danke, Vater«, sagte ich. Ungläubig, wie ich nun einmal war, hatte ich die Beichte nur benutzt, um ihn zu zwingen, mich ernst zu nehmen, und ich war einigermaßen überrascht über das Gefühl, dass die Bürde, die auf meinem Gemüt lastete, leichter wurde. Vielleicht war es ja nur die Erleichterung, jemandem die Wahrheit erzählt zu haben.
Er verabschiedete sich mit einer Handbewegung. »Ich sehe Euch morgen, chère madame. Jetzt solltet Ihr noch ein wenig ruhen, wenn Ihr könnt.«
Er steuerte auf die Tür zu und legte dabei die Stola ordentlich zusammen. An der Tür hielt er noch einmal inne. Er wandte sich um und lächelte mich an. Seine Augen leuchteten aufgeregt wie die eines Kindes.
»Und vielleicht«, sagte er, »vielleicht könntet Ihr mir morgen … erzählen, wie es ist?«
Ich erwiderte sein Lächeln.
»Ja, Vater. Ich erzähle es Euch.«
Nachdem er gegangen war, wankte ich über den Flur, um nach Jamie zu sehen. Ich hatte schon Leichen gesehen, die in einem besseren Zustand waren als er, doch seine Brust hob und senkte sich regelmäßig, und die unheilvolle grünliche Verfärbung seiner Haut war verschwunden.
»Ich wecke ihn alle paar Stunden, um ihm ein paar Löffel Brühe einzuflößen«, sagte Bruder Roger leise neben mir. Er ließ den Blick vom dem Patienten zu mir schweifen und erschrak sichtlich über meine Erscheinung. Vermutlich hätte ich mir doch das Haar kämmen sollen. »Äh, vielleicht hättet Ihr gern … auch etwas?«
»Nein danke. Ich glaube … ich glaube, ich schlafe wirklich noch ein wenig.« Ich fühlte mich nicht mehr belastet von Schuld und Depression, sondern in mir breitete sich eine schläfrige, zufriedene Schwere aus. Ob es die Wirkung der Beichte war oder des Weins, zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich mich auf mein Bett und den Schlummer freute.
Ich beugte mich vor, um Jamie zu berühren. Er war warm, jedoch ohne jede Spur von Fieber. Sanft strich ich ihm über den Kopf und glättete ihm das wirre rote Haar. Sein Mundwinkel bewegte sich kurz und nahm dann seinen Platz wieder ein. Doch er hatte sich nach oben verzogen. Da war ich mir ganz sicher.
Der Himmel war kalt und feucht und bis zum Horizont von einer grauen Leere erfüllt, die mit dem Nebel auf den Hügeln und der schmutzigen Schneedecke der letzten Woche verschmolz, so dass das Kloster in einen verdreckten Wattebausch gehüllt zu sein schien. Auch im Inneren lastete die Stille des Winters schwer auf den Bewohnern. Die Lobgesänge in der Kapelle klangen dumpf, und die dicken Steinmauern schienen jedes Geräusch zu schlucken und die alltägliche Geschäftigkeit zu dämpfen.
Jamie schlief fast zwei Tage durch und erwachte nur, um etwas Brühe oder Wein zu sich zu nehmen. Einmal wach, begann er jedoch, wie ein ganz normaler gesunder junger Mann zu heilen, der sich plötzlich seiner bislang selbstverständlichen Kraft und Unabhängigkeit beraubt sieht. Mit anderen Worten: Er genoss es ungefähr vierundzwanzig Stunden lang, sich umsorgen zu lassen, und dann wurde er nacheinander nervös, unruhig, gereizt, mürrisch, aufsässig und böse.
Die Wunden an seinen Schultern schmerzten. Die Narben an seinen Beinen juckten. Er hatte es satt, auf dem Bauch zu liegen. Es war zu warm im Zimmer. Seine Hand schmerzte. Vom Rauch des Kohlebeckens brannten ihm die Augen, so dass er nicht lesen konnte. Er hatte genug von Brühe, Brei und Milch. Er wollte Fleisch.
Ich erkannte die Symptome seiner wiederkehrenden Gesundheit und war froh darüber, aber ich hatte nicht vor, mir alles gefallen zu lassen. Ich lüftete das Zimmer, wechselte seine Laken, trug ihm Ringelblumensalbe auf den Rücken auf und rieb ihm die Beine mit Aloesaft ein. Dann bat ich einen Laienbruder, ihm neue Brühe zu holen.
»Ich will diesen Mist nicht mehr! Ich brauche richtiges Essen!« Aufgebracht schob er das Tablett beiseite, so dass die Brühe auf die Serviette unter der Schale schwappte.
Mit verschränkten Armen blickte ich auf ihn hinunter. Seine blauen Augen blitzten herrisch zurück. Er war spindeldürr, und seine Gesichtsknochen malten sich deutlich unter der Haut ab. Seine Genesung verlief zwar gut, doch die gereizten Nerven seines Magens würden noch eine Weile brauchen. Selbst Brühe und Milch konnte er ja nicht bei sich behalten.
»Du bekommst richtiges Essen, wenn ich es erlaube«, teilte ich ihm mit, »vorher nicht.«
»Ich will es aber jetzt! Glaubst du etwa, du kannst mir vorschreiben, was ich esse?«
»Ja, verdammt! Ich bin hier der Arzt, falls du das schon vergessen haben solltest.«
Er schwang die Füße über die Bettkante und schien tatsächlich gehen zu wollen. Ich legte ihm die Hand auf die Brust und schubste ihn zurück.
»Du bleibst gefälligst im Bett und tust einmal im Leben, was man dir sagt«, fuhr ich ihn an. »Du bist noch nicht kräftig genug zum Aufstehen, und du bist auch noch nicht bereit für feste Nahrung. Bruder Roger sagt, du hast dich heute Morgen wieder übergeben.«
»Bruder Roger kann sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und du genauso«, sagte er zähneknirschend und kämpfte sich wieder hoch. Er streckte die Hand aus und bekam die Tischkante zu fassen. Mit beträchtlicher Anstrengung erhob er sich und stand dann schwankend da.
»Leg dich wieder ins Bett! Du fällst gleich!« Er war alarmierend blass, und vom bloßen Stehen brach ihm der kalte Schweiß aus.
»Ich falle nicht«, behauptete er. »Und wenn doch, ist es meine Sache.«
Inzwischen war ich wirklich wütend.
»Ach ja? Und wer, glaubst du, hat dir denn dein elendes Leben überhaupt gerettet? Das hast du wohl ganz allein gemacht, wie?« Ich packte seinen Arm, um ihn wieder auf das Bett zuzuschieben, doch er entriss ihn mir.
»Ich habe dich nicht darum gebeten, oder? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen? Außerdem weiß ich nicht, warum du dir überhaupt die Mühe gemacht hast, mir das Leben zu retten, wenn du mich doch nur verhungern lassen willst – es sei denn, es macht dir Freude, dabei zuzusehen.«
Das war einfach zu viel.
»Du bist so verdammt undankbar!«
»Und du bist ein altes Waschweib!«
Ich richtete mich zu voller Größe auf und zeigte drohend auf das Bett. Mit meiner ganzen Schwesternautorität sagte ich: »Geh sofort zurück ins Bett, du sturer, nichtsnutziger, idiotischer …«
»Schotte«, brachte er den Satz für mich auf den Punkt. Er trat einen Schritt auf die Tür zu und wäre hingefallen, wenn er nicht Halt an einem Hocker gefunden hätte. Er ließ sich in letzter Sekunde heftig darauf niederplumpsen und blieb schwankend sitzen. Seine Augen blinzelten ein wenig, weil ihm schwindelig war. Ich ballte die Hände zu Fäusten und funkelte ihn an.
»Schön«, sagte ich. »Schön, verdammt. Ich lasse dir Brot und Fleisch bringen, und wenn du dann auf den Boden gekotzt hast, kannst du es selbst wieder aufwischen! Ich tue es jedenfalls nicht, und wenn Bruder Roger es macht, ziehe ich ihm das Fell über die Ohren!«