Ich blickte durch das Fenster am Ende des Korridors. Die Sonne stand tatsächlich ein wenig jenseits des Zenits, und mir wurde bewusst, dass mein Magen zunehmend knurrte. Ich lächelte den Mädchen zu.
»Ich glaube, das mache ich. Danke.«
Noch einmal brachte ich Proviant auf die Weide, weil ich fürchtete, dass Jamie sonst bis zum Abendessen nichts bekommen würde. Ich setzte mich ins Gras, um ihm beim Essen zuzusehen, und fragte ihn, warum er eigentlich als Viehdieb unter freiem Himmel gelebt hatte. Inzwischen hatte ich genug von den Leuten aus dem nahen Dorf und von den Burgbewohnern gesehen, um sagen zu können, dass Jamie nicht nur aus besserem Hause stammte als die meisten von ihnen, sondern auch gebildeter war. So, wie er mir das Gehöft seiner Familie beschrieben hatte, schien diese sogar ziemlich wohlhabend zu sein. Warum war er so weit von zu Hause fort?
»Ich bin ein Gesetzloser«, sagte er, als überraschte es ihn, dass ich das nicht wusste. »Die Engländer haben einen Preis von zehn Pfund Sterling auf meinen Kopf ausgesetzt. Nicht ganz so viel wie auf einen Straßenräuber«, fügte er selbstironisch hinzu, »aber ein bisschen mehr als für einen Taschendieb.«
»Nur wegen Widerstands gegen das Militär?«, fragte ich ungläubig. Zehn Pfund Sterling waren hier das halbe Jahreseinkommen eines kleinen Bauernhofs; ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ein einzelner entflohener Gefangener der englischen Regierung so viel wert war.
»Och, nein. Wegen Mordes.« Ich verschluckte mich an meinem Brot. Jamie hämmerte mir hilfsbereit auf den Rücken, bis ich wieder sprechen konnte.
Mit tränenden Augen fragte ich: »W-wen hast du denn umgebracht?«
Er zuckte mit den Achseln. »Nun ja, es ist ein bisschen merkwürdig. Ich habe den Mann, wegen dessen Ermordung man mich sucht, nämlich überhaupt nicht umgebracht. Ich habe aber durchaus ein paar andere Rotröcke auf dem Gewissen, also ist es wahrscheinlich nicht unberechtigt.«
Er hielt inne und bewegte die Schultern, als scheuerte er sich an einer unsichtbaren Wand. Ich hatte ihn das schon einmal tun sehen, an meinem ersten Morgen in der Burg, als ich ihn verarztet und dabei die Narben auf seinem Rücken entdeckt hatte.
»Es war in Fort William. Nachdem sie mich das zweite Mal ausgepeitscht hatten, konnte ich mich ein oder zwei Tage kaum bewegen, und dann habe ich Fieber bekommen. Aber als ich wieder stehen konnte, haben mich … Freunde aus der Garnison geholt, obwohl ich besser nicht sage, wie. Jedenfalls gab es bei unserem Aufbruch einiges Durcheinander, und ein englischer Sergeant-Major wurde erschossen – zufälligerweise war es der Mann, der mich das erste Mal ausgepeitscht hatte. Aber ich hätte ihn nicht erschossen; ich hatte ja nichts gegen ihn persönlich, und ich war ohnehin so schwach, dass ich mich nur an das Pferd klammern konnte.« Sein breiter Mund verspannte sich. »Obwohl ich es bei Hauptmann Randall vermutlich versucht hätte.« Er ließ die Schultern wieder sinken, so dass sich das rauhe Leinenhemd fest über seinen Rücken spannte, und zuckte mit den Achseln.
»Aber so ist es nun einmal. Das ist einer der Gründe, warum ich mich ohne Begleitung nicht weit von der Burg entferne. So tief in den Highlands ist es zwar unwahrscheinlich, einer englischen Patrouille über den Weg zu laufen; anderswo könnte es aber gut sein. Und dann ist da noch die Wachpatrouille, obwohl auch die nicht in die Nähe der Burg kommt. Colum braucht sie nicht, weil er ja seine eigenen Männer hat.« Er lächelte und fuhr sich mit der Hand durch das leuchtende kurze Haar, bis es sich wie bei einem Stachelschwein in alle Richtungen sträubte.
»Ich bin schließlich nicht gerade unauffällig. Zwar bezweifle ich, dass es in der Burg Informanten gibt, aber auf dem Land könnte es den einen oder anderen geben, der sich gern etwas dazuverdienen würde, indem er mich an die Engländer verrät, wenn er wüsste, dass ich gesucht werde.« Er lächelte mich an. »Du hast dir ja sicher schon gedacht, dass mein Name nicht MacTavish ist?«
»Weiß der Burgherr das?«
»Dass ich gesetzlos bin? Oh, aye, Colum weiß Bescheid. Die meisten Leute in dieser Gegend der Highlands wissen es wahrscheinlich; die Ereignisse in Fort William haben damals für einigen Aufruhr gesorgt, und Nachrichten verbreiten sich hier schnell. Was sie vermutlich nicht wissen, ist, dass Jamie MacTavish der Gesuchte ist, solange mich nur niemand sieht, der mich unter meinem eigenen Namen kennt.« Sein Haar stand immer noch absurd zu Berge. Ich verspürte einen plötzlichen Impuls, es ihm glatt zu streichen, verkniff es mir aber.
»Warum trägst du eigentlich die Haare so kurz?«, fragte ich unvermittelt und wurde prompt rot. »Entschuldige, es geht mich nichts an. Ich habe mich nur gewundert, weil die meisten Männer hier lange Haare haben …«
Er strich sich die Stachelhaare glatt und wirkte ein wenig verlegen.
»Ich hatte es auch immer lang. Es ist jetzt kurz, weil die Mönche mir den Hinterkopf kahlscheren mussten und es erst ein paar Monate Zeit zum Wachsen hatte.« Er lud mich mit einer Geste ein, seinen Hinterkopf zu inspizieren.
»Siehst du sie?«, fragte er und beugte sich vor. Auf jeden Fall konnte ich sie spüren, und als ich sein dichtes Haar zur Seite schob, sah ich sie auch – eine fünfzehn Zentimeter lange Wulst aus frisch verheiltem Narbengewebe, die sich rötlich von seiner Haut abhob. Ich drückte der Länge nach sacht mit dem Finger darauf. Sauber verheilt, und wer immer sie genäht hatte, hatte gute Arbeit geleistet; eine solche Verletzung musste weit auseinandergeklafft und heftig geblutet haben.
»Hast du Kopfschmerzen?«, fragte ich aus beruflichem Interesse. Er setzte sich gerade und strich sich das Haar wieder über die Narbe. Er nickte.
»Manchmal, aber nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Als es passiert ist, war ich fast einen Monat blind, und mein Kopf hat höllisch geschmerzt. Die Kopfschmerzen sind allmählich schwächer geworden, als mein Augenlicht zurückkehrte.« Er blinzelte mehrmals, als überprüfte er sein Sehvermögen.
»Manchmal wird es schlechter«, erklärte er mir, »wenn ich sehr müde bin. Dann sehe ich verschwommen.«
»Ein Wunder, dass es dich nicht umgebracht hat«, sagte ich. »Du musst einen mächtigen Dickschädel haben.«
»So ist es. Durch und durch verknöchert, behauptet zumindest meine Schwester.« Wir lachten beide.
»Wie ist es denn passiert?«, fragte ich. Er runzelte die Stirn, und sein Gesicht nahm eine unsichere Miene an.
»Nun ja, das ist die Frage«, antwortete er langsam. »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich war mit ein paar Kameraden aus der Gegend von Loch Laggan auf dem Carryarick-Pass unterwegs. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mich bergauf durch ein kleines Dickicht geschoben habe; ich weiß noch, dass ich mir die Hand an einer Stechpalme gestochen habe und dachte, dass die Blutstropfen genauso aussahen wie die Beeren. Und das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich in Frankreich in der Abtei Sainte Anne de Beaupré aufgewacht bin und mir der Schädel brummte wie eine Trommel, während mir jemand, den ich nicht sehen konnte, etwas Kaltes zu trinken gegeben hat.«
Er rieb sich den Hinterkopf, als hätte er dort immer noch Schmerzen.
»Manchmal meine ich, mich an Kleinigkeiten zu erinnern – eine Lampe über meinem Kopf, die sacht hin- und herschwingt, eine Art ölig-süßer Geschmack auf meinen Lippen, Leute, die etwas zu mir sagen – aber ich habe keine Ahnung, ob irgendetwas davon real ist. Ich weiß, dass die Mönche mir Opium gegeben haben und ich fast die ganze Zeit geträumt habe.« Er legte die Finger flach auf seine geschlossenen Augenlider.
»Es gab einen Traum, den ich wieder und wieder geträumt habe. In meinem Kopf sind Baumwurzeln gewachsen, dick und knotig, immer größer sind sie geworden, haben sich durch meine Augen nach außen gedrückt und sich in meinen Hals geschoben, um mich zu erwürgen. Das steigerte sich immer mehr, und die Wurzeln haben sich gewunden und verknotet und hörten nicht auf zu wachsen. Am Ende waren sie so groß, dass mir der Schädel geplatzt ist, und ich bin vom Geräusch meiner berstenden Knochen aufgewacht.« Er verzog das Gesicht. »Ein matschiges Knacken wie Schüsse unter Wasser.«