»Nun ja, wenn wir beide hinübergehen würden, um es uns näher anzusehen, und ich bei dem Anblick in Ohnmacht fallen würde, meinst du …?«
»Wo du doch kein Blut gewohnt bist?« Er zog ironisch die Augenbraue hoch und grinste. »Aye, das geht. Wenn es dir gelingt, von der Plattform zu fallen, umso besser.«
Mir war in der Tat ein wenig mulmig gewesen bei dem Gedanken, mir das anzusehen, doch der Anblick war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Das Ohr war an der Oberkante festgenagelt, und der quadratische, kopflose Nagel ragte gute fünf Zentimeter heraus. Es blutete kaum, und man konnte dem Gesicht des Jungen ansehen, dass er zwar Angst hatte und sich furchtbar fühlte, dass er aber keine großen Schmerzen hatte. Allmählich kam mir der Gedanke, dass Geilie vielleicht recht gehabt hatte, wenn sie dies angesichts der üblichen schottischen Jurisprudenz für eine ziemlich milde Strafe hielt – was allerdings nichts daran änderte, dass ich es barbarisch fand.
Jamie schob sich beiläufig zwischen den Zuschauern hindurch. Er betrachtete den Jungen mit einem tadelnden Kopfschütteln.
»Also wirklich, Junge«, sagte er und schnalzte mit der Zunge. »Du sitzt ja schön in der Klemme, wie?« Unter dem Vorwand, sich das Ohr genauer anzusehen, legte er seine große, kräftige Hand auf die hölzerne Kante des Prangers. »Ach, Kleiner«, sagte er dann gutmütig, »das ist doch keine große Sache. Einmal mit dem Kopf geruckt, und schon ist es vorbei. Warte, soll ich dir helfen?« Er streckte die Hand aus, als wollte er den Jungen beim Schopf packen und seinen Kopf mit einem Ruck befreien. Der Junge stieß einen Angstschrei aus.
Das war mein Stichwort. Ich bewegte mich rückwärts und gab mir Mühe, meiner Hinterfrau dabei fest auf die Zehen zu treten. Sie jaulte schmerzvoll auf, als mein Stiefelabsatz ihr den Mittelfuß quetschte.
»Verzeihung«, keuchte ich. »Mir ist … so schwindelig! Bitte …« Ich wandte mich vom Pranger ab und stolperte zwei oder drei Schritte kunstvoll umher, wobei ich mich hilfesuchend an die Ärmel der Umstehenden klammerte. Von der Kante der Plattform war ich keinen halben Meter mehr entfernt; also hielt ich mich an einer schmächtigen jungen Frau fest, die ich mir zu diesem Zweck ausgeguckt hatte, stürzte kopfüber von der Kante und riss sie mit mir in die Tiefe.
Wir rollten als Knäuel kreischender Röcke über den feuchten Untergrund, bis ich schließlich ihre Bluse losließ und alle viere von mir streckte, während mir der Regen auf das Gesicht prasselte.
Ich war tatsächlich ein wenig mitgenommen von dem Aufprall – die junge Frau war auf mich gestürzt – und rang nach Luft, während ich dem Gebrabbel der besorgten Stimmen lauschte, die sich rings um mich sammelten. Spekulationen, Vorschläge und schockierte Ausrufe regneten auf mich herab, dichter noch als die Wassertropfen vom Himmel, doch es war ein Paar vertrauter Arme, das mich zum Sitzen aufrichtete, und es war ein Paar ernstlich besorgter blauer Augen, das ich erblickte, als ich selbst die Augen öffnete. Ein schwaches Zucken seiner Augenlider verriet mir, dass wir es geschafft hatten, und tatsächlich sah ich den Gerberjungen, der sich ein Tüchlein ans Ohr hielt, mit Höchstgeschwindigkeit zu seinem Quartier davonrennen, unbemerkt von der Menge, die sich umgedreht hatte, um sich der neuen Sensation zuzuwenden.
Dieselben Dorfbewohner, die gerade noch nach dem Blut des Jungen verlangt hatten, waren nun die Güte selbst zu mir. Ich wurde vorsichtig hochgehoben und zum Haus der Duncans zurückgetragen, wo man mich mit Brandy, Tee, warmen Decken und Mitgefühl überhäufte. Ich durfte erst wieder gehen, als Jamie schließlich entschlossen zu verstehen gab, dass wir aufbrechen mussten, mich dann wortlos von der Couch hob und auf die Tür zusteuerte, ohne die besorgten Protestrufe meiner Gastgeber zu beachten.
Als ich dann – wieder einmal – vor Jamie im Sattel saß, versuchte ich, ihm für seine Hilfe zu danken.
»Keine Umstände, Claire«, sagte er und winkte ab.
»Aber es war doch riskant für dich«, beharrte ich. »Mir war nicht klar, dass es gefährlich für dich sein würde, als ich dich gefragt habe.«
»Ah«, sagte er unverbindlich. Dann, einen Moment später, mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme: »Du denkst doch nicht, dass ich weniger mutig bin als so eine kleine Sassenach, oder?«
Er trieb das Pferd zum Trab an, und auf dem Rest des Heimwegs sprachen wir nicht viel. Als wir an der Burg ankamen, ließ er mich mit einem sanft spottenden »Gute Nacht, Sassenach« zurück. Doch ich hatte das Gefühl, dass eine Freundschaft begonnen hatte, die tiefer ging als jede Plauderei beim Kräutersammeln.
Kapitel 10
Die Eidzeremonie
Die nächsten beiden Tage verliefen sehr turbulent; es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, und die letzten Vorbereitungen wurden getroffen. Meine medizinische Hilfe war kaum noch gefragt; die Opfer der Lebensmittelvergiftung waren wieder auf den Beinen, und alle anderen schienen viel zu beschäftigt zu sein, um krank zu werden. Abgesehen davon, dass sich die Jungen, die das Brennholz brachten, reihenweise Splitter in die Finger rammten und dass unter den vielbeschäftigten Küchenmägden eine ähnliche Plage von Brandblasen ausbrach, gab es auch keine Unfälle.
Meine Aufregung wuchs mit jeder Minute, denn heute Abend war es so weit. Mrs. Fitz hatte mir erzählt, dass sich alle kampffähigen Männer des MacKenzie-Clans heute Abend im großen Saal sammeln würden, um Colum ihren Treueeid zu schwören. Solange sich eine derart bedeutende Zeremonie in der Burg abspielte, würden die Stallungen unbeobachtet sein.
Während ich in der Küche oder in den Gärten geholfen hatte, hatte ich genügend Proviant für mehrere Tage beiseiteschaffen können, so dachte ich zumindest. Ich hatte zwar keine Feldflasche, hatte mir aber aus einem der schwereren Glasgefäße im Sprechzimmer etwas Ähnliches konstruiert. Colum verdankte ich stabile Schuhe und einen warmen Umhang, und bei meinem Nachmittagsbesuch im Stall hatte ich mir ein gutes Pferd ausgesucht. Zwar hatte ich kein Geld, doch meine Patienten hatten mir eine Handvoll Kleinkram geschenkt, Haarbänder und kleine Schnitzereien oder Schmuckstücke. Falls es nötig wurde, konnte ich diese also vielleicht eintauschen, wenn ich etwas brauchte.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, Colums Gastfreundschaft und die Freundschaft der Burgbewohner zu missbrauchen, indem ich ohne ein Wort des Abschieds ging, doch was hätte ich schon sagen können? Ich hatte zwar eine Weile darüber nachgedacht, aber am Ende hatte ich beschlossen, einfach zu gehen. Ich hatte ja nicht einmal Papier zum Schreiben und wollte es nicht riskieren, in Colums Wohnräumen danach zu suchen.
Als es dämmerte, näherte ich mich vorsichtig dem Stall. Ich lauschte zwar mit gespitzten Ohren nach Anzeichen menschlicher Gegenwart, doch anscheinend waren alle oben in der Burg und bereiteten sich auf die Zeremonie vor. Die Stalltür klemmte, gab aber auf leichten Druck nach, und ihre Lederscharniere ließen sie lautlos nach innen schwingen.
Die Luft im Stall war warm und von den leisen Geräuschen ruhender Pferde erfüllt. Außerdem war es hier pechschwarz. Die wenigen Fenster, die zur Belüftung dienten, waren enge Schlitze, zu klein, um den schwachen Sternenschein einzulassen. Mit ausgestreckten Händen schlurfte ich langsam über das Stroh in den Hauptteil des Stalls.
Ich tastete mich behutsam vor, auf der Suche nach einer Boxenwand, an der ich mich entlangbewegen konnte. Meine Hände fanden nichts, doch meine Schienbeine stießen gegen ein festes Hindernis auf dem Boden, und ich fiel der Länge nach hin und stieß einen Schreckensruf aus, der im Gebälk des alten Steingemäuers widerhallte.
Das Hindernis wälzte sich mit einem erschrockenen Fluch herum und packte mich fest bei den Armen. Ich fand mich an den kräftigen Körper eines Mannes gepresst wieder, dessen Atem mich im Ohr kitzelte.
»Wer seid Ihr?«, keuchte ich und warf mich zurück. »Und was macht Ihr hier?« Als er meine Stimme hörte, ließ der unsichtbare Angreifer los.