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Für Larry und Janice Weldon,

meinen Onkel und meine Tante

EINS

1.

Einen Tag früher als geplant brach Hunt Jackson auf. Mitten in der Nacht fuhr er los, während im Fernsehen noch die Conan-O'Brian-Show lief. Zwei Stunden später jagte er mit weit überhöhter Geschwindigkeit an Palm Springs vorbei und weiter in Richtung Osten. Nachdem jetzt endlich die Scheidung rechtskräftig war und Hunt obendrein seinen Job bei Boeing verloren hatte, hielt ihn nichts mehr. Er konnte tun und lassen, was er wollte, und gehen, wohin es ihm gefiel. Er war nicht mehr im alltäglichen Einerlei des Ehelebens gefangen, in den Verhaltensmustern und dem Trott, in die er verfallen war. Er fühlte sich herrlich frei, als er nun über den noch leeren, windgepeitschten Highway raste. Es war eine mondlose Nacht; zahllose Sterne funkelten am Himmel. Klar und deutlich konnte Hunt das Schimmern der Milchstraße sogar durch die getönte Windschutzscheibe des Saab hindurch erkennen.

Ein Saab.

Wann hatte Hunt sich eigentlich in einen Saab-Fahrer verwandelt? Er wusste es nicht, doch es lag schon so weit in der Vergangenheit, dass die Frage ihm beinahe müßig erschien - als gehöre es einfach dazu, sie jetzt zu stellen, auch wenn er eigentlich gar keine Antwort darauf erwartete. Durch die Windschutzscheibe sah er hoch über sich eine Sternschnuppe. Während seiner Kindheit in Tucson waren Sternschnuppen ein fester Bestandteil seines Lebens gewesen, doch erst jetzt ging ihm auf, dass er keine mehr gesehen hatte, seit er nach Süd-Kalifornien gezogen war. In den Nachrichten waren Meteoritenschauer erwähnt worden, fiel ihm jetzt wieder ein; Fernseh-Wetterfrösche hatten dieses Phänomen angekündigt und zugleich erklärt, warum man sie über Los Angeles und dem Gebiet von Orange County nicht würde sehen können - wegen der Luftverschmutzung, der Inversionswetterlage oder der »Lichtverschmutzung«. Hunt war es egal gewesen; er hatte nicht mehr darüber nachgedacht. Doch jetzt, hier draußen auf der Landstraße, begriff er, wie sehr ein sternenklarer Himmel ihm gefehlt hatte.

Mit dröhnender Hupe donnerte ein Sattelschlepper an ihm vorbei. Übermütig hupte Hunt seinerseits und ließ dazu die Lichthupe aufflammen, doch der Truck war schon weit vor ihm, und Hunts Versuch der Aufsässigkeit missglückte. Matt und kraftlos strahlte sein Fernlicht nur noch die Heckklappe des Lasters an, der in der Ferne verschwand.

Gegen drei Uhr früh erreichte er Blythe, und ehe die Sonne über Casa Grande aufging, hatte Hunt bereits Phoenix passiert und hielt Richtung Süden auf Tucson zu. Er frühstückte in einem Fast-Food-Schuppen für Trucker und bestellte eine übermäßig fettige Mahlzeit, die Eileen ihm niemals hätte durchgehen lassen; schließlich war so etwas nicht gut für die Arterien. Und so saß er hier, in einem Fernfahrer-Imbiss mitten in der Wüste, stopfte sich mit Fett und Kalorien voll und starrte auf ein handgemaltes Schild draußen, auf dem »HOLT DIE US AUS DER UN« stand.

Auch wenn die Trennung in beiderseitigem Einvernehmen erfolgt war - verzweifelt hatten sie beide versucht, dieser Hölle aus Streitereien, Geschrei und noch unschöneren Dingen zu entrinnen, zu der ihre Beziehung verkommen war -, musste Hunt in letzter Zeit doch oft an Eileen denken. Er dachte daran, wie er mit ihr zusammengelebt hatte, und versuchte jetzt, sich eine Zukunft ohne sie vorzustellen, doch es wollte ihm nicht gelingen.

Sicher, er fühlte sich freier, als er jemals gewesen war und vielleicht jemals wieder sein würde. Die ganze Welt stand ihm offen. Er konnte hingehen, wohin er wollte. Er konnte nach New Orleans oder nach New York, nach Miami oder Seattle, Chicago oder Honolulu. Aber das wollte er gar nicht, erkannte er nun. Er wollte nach Tucson. Dort war er geboren, dort war er aufgewachsen und zur Schule gegangen, dort hatte er Eileen kennen gelernt. Und jetzt zog er wie ein geprügelter Hund mit eingekniffenem Schwanz ab ...

Sollte er nicht lieber versuchen, ein neues Leben anzufangen und das eintönige Dasein abzuwerfen, in dem er sich verfangen hatte? Noch einmal von vorne anfangen? Vielleicht konnte er sein Leben in die Richtung lenken, in die er es schon längst hätte führen sollen.

Zwanzig Minuten später war Hunt wieder unterwegs, vorbei an der einsamen Schroffheit des Picacho Peak, auf dem Weg in sein altes Zuhause - nach Tucson.

In den zehn Jahren, die er fort gewesen war, hatte Tucson sich sehr verändert. Hunt fuhr durch die Außenbezirke der Stadt und versuchte sich zunächst einmal dort zurechtzufinden, ehe er sich in die Innenstadt wagen wollte. Vom Freeway aus hatte er gesehen, dass sich neue Wohnanlagen und Einkaufszentren entlang der Catalinas im Norden bis weit hinter die Ina Road erstreckten; neue Häuser kletterten im Westen immer höher in die Tucson Mountains in Richtung Gate's Pass hinauf; eine völlig neue Stadt schien südlich der I-10-Auffahrt auf dem Weg zur Mission aus dem Boden geschossen zu sein, und der Rincon District des Saguaro-Nationalparks lag jetzt nicht mehr außerhalb der Stadt, sondern unmittelbar an deren östlichem Rand.

In der Innenstadt waren viele Läden und Restaurants verschwunden; Gebäude waren abgerissen und durch neue ersetzt worden. Der ehemals einzigartige Charakter der Stadt schien einer allgemeinen Gleichförmigkeit gewichen zu sein, den typischen Zeichen der allgemeinen Kalifornisierung Amerikas, die bewirkte, dass es an jeder zweiten Ampel einen Burger King gab und jedes neu errichtete Bürogebäude leicht mediterrane Züge aufwies.

Die Gegend, in der Hunt aufgewachsen war, gab es zwar noch, aber sie sah viel schäbiger aus, als er sie in Erinnerung hatte, regelrecht heruntergekommen. Das Haus, das früher seinen Eltern gehört hatte, machte da keine Ausnahme. Wer immer jetzt dort wohnte, hatte den Vorgarten mittels Gussbeton in einen Parkplatz verwandelt. Jetzt standen dort drei Muscle-Cars aus den Sechzigerjahren in unterschiedlichen Phasen der Restaurierung; die Veranda, die Hunts Vater an der Seite des Hauses angebaut hatte, war abgerissen. Seine Eltern wären entsetzt gewesen, hätten sie das Haus jetzt sehen können. Hunt war versucht, sie anzurufen und ihnen die Bruchbude zu beschreiben, zu der das Haus verkommen war, damit sie sich noch schuldiger fühlten, es verkauft zu haben und fortgezogen zu sein. Doch dann wurde ihm klar, wie kleinlich dies wäre. In Minnesota waren seine Eltern glücklicher. Und wenn ihm das Haus wirklich so wichtig gewesen wäre - warum hatte er es seinen Eltern dann nicht abgekauft, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte?

Nein, das Haus war ihm gar nicht so wichtig. Er wünschte sich einfach nur, seine Eltern wären jetzt hier, weil er sich ein Zuhause wünschte - einen Ort, an den er zurückkehren konnte.

Die Nacht verbrachte er in einem Motel; im Nebenzimmer lag ein Pärchen, das sich lautstark über den Kauf eines Außenbordmotors stritt und dann ebenso lautstark zu Liebesspielchen überging. Am nächsten Morgen kaufte sich Hunt in der Lobby eine Tageszeitung und schaute beim Frühstück die Kleinanzeigen nach einem Haus oder einem Apartment durch, das er mieten konnte.

Jetzt, wo er hier war, erschien ihm die Vorstellung, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen, längst nicht mehr so romantisch. Plötzlich gingen ihm all die lästigen Kleinigkeiten durch den Kopf, die ein solcher Umzug unweigerlich mit sich brachte. Er würde ein Adressänderungsformular beim Postamt ausfüllen und sicherstellen müssen, dass während des Umzugs keine Rechnungen oder wichtigen Briefe verloren gingen; er musste eine neue Telefonnummer beantragen und die Familie und Freunde benachrichtigen; er musste das Abonnement der Los Angeles Times kündigen. Ganz zu schweigen davon, dass er seine Möbel und seine Habseligkeiten hierherschaffen musste.

Vielleicht war das alles den Aufwand gar nicht wert.

Doch.

Es musste sein.

Zumal es Vorteile gab. Zum Beispiel, dass die Mieten in Arizona viel niedriger waren als in Kalifornien. Für den Preis seines kleinen Ein-Zimmer-Apartments dort konnte er hier nicht bloß eine Maisonette-Wohnung mieten, sondern ein richtiges Haus - wenn auch vielleicht nicht gerade in der besten Lage der Stadt.