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»Mommy ist ja hier«, tröstete Stacy sie.

Joel eilte in sein Arbeitszimmer und zog den Vorhang vor. Er war sich der Bücherregale nur zu bewusst, die umstürzen und eine Neunjährige erschlagen konnten.

Dann war alles getan. Das Haus war verriegelt, verschlossen, gesichert.

Im Flur trafen sie wieder zusammen. »Wir bleiben hier«, entschied Joel. »Wir gehen nicht raus. Wir halten uns von allem fern, was umfallen oder explodieren oder verbrennen oder sonst wie zu einer Waffe werden kann.«

Das Telefon klingelte.

»Ich geh schon«, sagte Stacy.

»Geh nicht ran!«, herrschte Joel sie an.

Stacy warf ihm einen finsteren Blick zu. »Vielleicht gibt er uns ja noch eine Chance!«

Sie hatte recht. Joel lief ins Wohnzimmer und griff verzweifelt nach dem Telefon. »Hallo!«, rief er in die Muschel.

Es war Beth.

3.

Sie trafen sich bei Edward. Beth kümmerte sich um die Logistik, und da Edward nicht nur einen direkten Mordanschlag überlebt, sondern auch schon seit Wochen weder den Versicherungsvertreter noch jemanden von dessen Kohorten gesehen hatte, hielt sie es tatsächlich für möglich, dass er - warum auch immer - in gewisser Weise gegen den Wahnsinn und das Entsetzen immun war, die allen anderen so schrecklich zusetzten. Deshalb hatte sie Edwards Haus zum Treffpunkt erkoren.

Sie rief Jorge und Ynez an, dann Joel und Stacy. Jorge ging ans Telefon. Als Beth von ihrem Plan berichtete, sagte er, er werde sofort herüberkommen. »Aber Ynez lässt Martina nicht allein«, fügte er hinzu. »Sie bleibt zu Hause.«

»Das verstehe ich«, sagte Beth.

Joel war aufgedrehter und wütender, als sie ihn jemals erlebt hatte; so viel Temperament hatte sie ihm überhaupt nicht zugetraut. Doch als er erklärte, was geschehen war, verstand sie ihn. Ein widerliches Gefühl breitete sich in Beths Magengrube aus, als sie daran dachte, dass der Versicherungsvertreter sich Lilly als Ziel ausgesucht hatte. Lilly hatte sie immer »Tante Beth« genannt, seit sie sprechen konnte - und Beth wusste nicht, was sie tun würde, sollte dem Mädchen etwas zustoßen.

»Ich bin gleich da«, versprach Joel. »Ich werde nicht einfach hier herumsitzen und warten. Wenn ihr euch den Kerl vornehmen wollt, bin ich dabei.«

»Ich lasse meine Tochter nicht allein!«, rief Stacy aus dem hinteren Teil der Wohnung.

»Lass sie da«, sagte Beth leise. »Das ist okay so.«

Also kamen Jorge und Joel ohne ihre Frauen und Kinder, fast gleichzeitig. Sie versammelten sich am Tisch in Edwards Esszimmer, auf dem Hunt ein Mosaik aus den eingescannten und vergrößerten Kartenausschnitten ausbreitete, die er auf seinem Computer ausgedruckt hatte, ehe sie hierhergefahren waren. Edward selbst war aus dem Bett aufgestanden und mit Hilfe seines Gehgestells ins Esszimmer herübergekommen. Durch das Fenster war zu sehen, wie die Nachmittagssonne in glühenden Farben im Westen versank.

Konzentriert betrachteten sie die beiden zusammengesetzten Karten und fürchteten, jeden Moment könne der Versicherungsvertreter durch die Haustür stürmen oder aus irgendeinem anderen Raum kommen, um die Blätter an sich zu raffen. Selbst jetzt beobachtete er sie vielleicht noch. Beth zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken.

Nirgends war eine Adresse für die Insurance Group angegeben, doch auf der ältesten Karte gab es eine Reihe geheimnisvoller Linien ohne dazugehörige Pfeile oder Anmerkungen, die allesamt auf den südlichen Teil Mexikos wiesen und fast einen kleinen Kreis mit einem Stern in der Mitte verdeckten. Diesen Kreis sah auch Hunt und tippte mit seinem Stift darauf. »Wenn ich raten müsste«, sagte er, »kommen die genau von dort. Alles scheint sich von dort aus immer weiter ausgebreitet zu haben. Ich wette, da haben die ihren Hauptsitz.«

»Oder sie hatten da ihren Hauptsitz«, warf Edward ein. »Die Karte ist ja sehr alt. Was, wenn die umgezogen sind?«

»Wir haben nur diese Karte. Kennt jemand sich in Mexiko aus?«

Alle blickten auf Jorge.

»Ich glaube, das ist Chiapas, aber sicher bin ich mir nicht.« Er wandte sich an Edward. »Hast du einen Atlas auf deinem Computer?«

Edward zuckte mit den Schultern. »Keinen blassen Schimmer. Aber ich glaube, da ist ein Programm drauf, das ›Encarta‹ heißt ... 'ne Enzyklopädie oder so.«

Die Enzyklopädie war ihnen keine große Hilfe, doch dank eines allgemeinen Eintrags über Mexiko und einer Karte des Landes wussten sie nun wenigstens, dass es tatsächlich um den Bundesstaat Chiapas ging. Sie gingen ins Internet, um weitere Informationen zu finden.

Es wäre nachvollziehbarer, überlegte Beth, wenn die Insurance Group ihre Hauptgeschäftsstelle irgendwo in Afrika gehabt hätte, oder im Nahen Osten. Der Wiege der Zivilisation. Doch wäre das der Fall gewesen, wäre auch die Existenz der Insurance Group selbst bekannt gewesen: Sie wäre in uralten Texten erwähnt worden, oder es wären zumindest Gerüchte überliefert, dass es Derartiges gebe. Nein, wenn es der Gesellschaft um Anonymität und Geheimhaltung gegangen war - und das schien der Fall zu sein -, war es tatsächlich das Klügste, ihr Geschäft in den unzugänglichen Dschungeln der Neuen Welt zu eröffnen.

Aber wie waren ihre Vertreter ... ihr Vertreter ... damals gereist? In Booten aus Papyrusried? Beth konnte sich nicht vorstellen, wie die Versicherungsvertreter monatelang übers tückische Meer fuhren, schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert, um sich über den gesamten Globus auszubreiten und ihre Policen zu verkaufen. Sie mussten irgendeine andere Methode gehabt haben, die weiten Strecken zurückzulegen.

Und wie reisten die Vertreter heutzutage? Angenommen, sie müssten in regelmäßigen Abständen bei ihrer Hauptgeschäftsstelle Bericht erstatten - reisten sie dann per Flugzeug? Auch das konnte Beth sich nur schwer vorstellen.

Hunt hatte eine detailliertere Karte der Gegend gefunden, die er sofort ausdruckte. Sie alle waren zu dem Ergebnis gekommen, der eingekreiste Stern markiere einen Punkt, der in der Nähe von Tuxtla Gutierrez lag, einem Handels- und Fabrikationszentrum, das zugleich die größte Stadt in Chiapas war.

»Fahren wir«, sagte Jorge sofort.

Joel nickte. »Dann wollen wir mal einer Versicherungsgesellschaft in den Arsch treten.«

Edward verzog das Gesicht und stützte sich auf sein Gehgestell. »In Gedanken bin ich bei euch, Jungs. Aber ich habe wirklich keine Chance, bei der Sache mitzumachen.«

Beth schaute zu Hunt hinüber und nickte. Das war ihre einzige Hoffnung.

»Also gut«, sagte er. »Auf nach Tuxtla Gutierrez.«

ZWANZIG

1.

Nachdem sie in Mexico City fast drei Stunden gewartet hatten, in eine einmotorige Cessna umgestiegen waren und einen unruhigen Flug voller Turbulenzen hinter sich gebracht hatten, landeten die vier kurz nach Mitternacht auf dem Flughafen von Tuxtla Gutierrez. Sie waren die einzigen Amerikaner an Bord - die Einzigen, die mutig oder dumm genug waren, während dieser Zeit regionaler Instabilität nach Chiapas zu fliegen. Doch die Flughafenarbeiter auf Nachtschicht verhielten sich ihnen gegenüber freundlich und hilfsbereit. Nachdem sie das Gepäck aus dem Laderaum geholt hatten, fuhren sie mit einem schmutzigen Taxi zu dem Hotel, das sie über ein Online-Reisebüro gebucht hatten. Das Hotel - das erstaunlich sauber war - befand sich genau neben einem Bürogebäude aus Stahl und Glas und gegenüber einem fensterlosen Tongebilde, das geradewegs aus einem präkolumbianischen Jahrhundert hierherbefördert zu sein schien.

Joel und Jorge teilten sich ein Zimmer, und da sie beide vom Telefon in der Lobby aus ihre Frauen anrufen wollten, zogen Hunt und Beth sich müde zurück. Hunt stimmte sich mit ihnen noch ab, dass sie sofort geweckt werden sollten, falls sich in den Staaten irgendetwas Sonderbares ereignete.