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»Es gibt vielleicht keine andere Möglichkeit. Wir sind jetzt schon zwei Tage beschäftigt. Es werden mindestens drei. Ich muss es tun.« Beth trat vor, deutete auf ihren Kopf - und ehe sie bemerkte, wie ihr geschah, hatte die Hexe eine Schere in der Hand und schnitt oberhalb des rechten Ohres eine Strähne ab.

Sofort huschte die alte Frau zum hinteren Teil der Hütte und gab die Strähne in einen zerknitterten Papierbeutel; dann kam sie zurück und begann zu sprechen - zu schnell, als dass Manuel oder Jorge es simultan hätten übersetzen können. Die anderen konnten nichts tun als warten, bis die Alte fertig war, und dann der Zusammenfassung eines Dolmetschers lauschen.

Jorge versuchte sich als Erster daran. »Im Gebirge«, sagte er. »Sie meint, die Geschäftsstelle befinde sich in einem Canyon, der durch einen Stern in einer Klippe und einen Felsen in Gestalt eines Mannes gekennzeichnet ist.«

»Ja«, bestätigte Manuel.

Die Hexe sagte noch etwas, kurz und knapp, und das Gesicht des Fremdenführers hellte sich auf. »Sí«, sagte er. »Sí.« Lächelnd nickte er und erklärte den anderen: »Ich weiß, wo das ist.«

»Wie weit ist es von hier?«, fragte Hunt.

»Ein paar Stunden. Wir morgen fahren dorthin. Die Straße sehr schlecht.«

Dankbar, endlich diese faulig riechende Hütte verlassen zu können, folgte Beth Manuel durch den Eingang in die grelle Abendsonne und an die frische Luft. Kurz bevor sie die Tür hinter sich schlossen, sagte die alte Frau noch irgendetwas, wieder in dieser unglaublich schnellen Sprechweise. Manuel nickte und fiel ihr einmal kurz ins Wort; es klang fast wie eine Zustimmung. Doch er übersetzte ihre Worte nicht.

»Was hat sie gesagt?«, erkundigte sich Beth.

Manuel verzog das Gesicht. »Eine Warnung.«

»Vor der Versicherung?«

»Vor Babys«, antwortete Jorge und legte die Stirn in Falten.

»Babys?«, wiederholte Hunt. Dann schaute er peinlich berührt seinen Freund an und dachte an Jorges Kind, das so entsetzlich verstümmelt worden war.

Martina. Sie hatten ihn ... sie Martina genannt. Statt Martin.

Manuel ging über den staubigen Boden zum Pick-up. »Hier es gibt mehr ...«, er suchte das richtige Wort, »Geschehnisse als eure Versicherung. Das hier altes Land. Hier es gibt viele Religionen, viele Geister.«

»Aber was ist mit den Babys?«

»Sie hat gesagt, wir müssten uns davor hüten«, erklärte Jorge.

Beth hörte die Furcht in Hunts Stimme, als er nachfragte: »Und was bedeutet das?«

Manuel schüttelte den Kopf. »Das ich erkläre euch bei Rückfahrt. Wir jetzt müssen los. Sie nicht möchte, dass wir bei Einbruch der Dunkelheit noch hier.«

Auf der Rückfahrt erklärte Manuel den anderen, was es mit den Babys auf sich hatte; er musste ihnen die Geschichte geradewegs zuschreien, um das Dröhnen des Motors zu übertönen. Es war eine sonderbare und erschreckende Geschichte. Beth hatte das Gefühl, als wären sie alle einem Ungeheuer über den Kontinent gefolgt - nur um erfahren zu müssen, dass es aus dem Land der Ungeheuer stammte.

Manuel zufolge war es so, dass Babys, die in Chiapas starben, nicht in den Himmel kamen oder sonst irgendein Leben nach dem Tod hatten. Stattdessen blieben sie fest mit der Erde verbunden - und damit auch mit dem Dorf oder der Stadt, in der sie gestorben waren. Und sie waren zornig. Es wurde zum alleinigen Ziel ihrer unheiligen Existenz, die Lebenden zu plagen, sie vom Schlaf abzuhalten und sie in der Nacht zu ängstigen. Sie waren harmlos, solange man sie nicht ins Schlafzimmer ließ. Ob im eigenen Zuhause oder in einem Hoteclass="underline" Sie konnten über Flure und durch Zimmer streifen, machten Lärm und erschreckten die Leute, doch sie konnten keinen physischen Schaden anrichten. Sobald sie aber in ein Schlafzimmer kamen, durch eine offene Tür oder ein Fenster, wurden sie stark, konnten angreifen und verletzen.

Und töten.

»Sie wollen strafen ihre Eltern, die sie haben sterben lassen. Doch ist ihnen jeder Erwachsene recht. Sie sehr listig«, warnte ihr Fremdenführer sie. »Sie so tun, als hätte man sie auf Türschwelle abgelegt, oder sie jaulen wie Katze, die ins Haus will, aber glaubt ihnen nicht! Sie wollen euch dazu bringen, sie in euer Zimmer zu lassen. Was immer ihr tut, öffnet keine Türen und keine Fenster. Bleibt im Bett. Geht wieder schlafen.« Manuel hielt inne. »Die Hexe euch gewarnt, ihr sollt vorsichtig sein. Sie sagt, sie würden zu euch kommen heute Nacht.«

Vor ihren Erlebnissen mit der Versicherung hätte Beth derartige Geschichten als Humbug abgetan. Doch jetzt versprach sie Manuel, bis zum Morgen keine Türen und keine Fenster zu öffnen.

Tatsächlich erwachte Beth mitten in der Nacht, als sie ein Baby schreien hörte. Und dann war da das Klopfen einer winzigen Hand, die oben gegen die Tür ihres Hotelzimmers hämmerte.

Das Baby muss in der Luft schweben!, schoss es Beth durch den Kopf.

Sie setzte sich im Bett auf und sah, dass Hunt ebenfalls wach war. Rasch schloss er die Augen wieder und tat so, als würde er schlafen, doch als Beth ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß, setzte er sich neben sie.

»Ich hör's«, gab er zu, ohne dass sie ihn hatte fragen müssen. Sie hörte die Furcht in seiner Stimme.

»Verdammt«, fluchte Beth. »Das macht mir Angst. Es ist wie eine Drohung. Als ob man uns sagen wolle: Verschwindet, solange ihr noch könnt.«

»Das glaubst du doch nicht wirklich?«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Ich habe für eine Deluxe-Lebensversicherung unterschrieben«, sagte Hunt. »Wir müssen die Versicherungsgesellschaft finden - und die Police des Vertreters. Wir müssen ihn aufhalten, und zwar schnell. Sonst steht meine erste Beitragszahlung an, und die kann ich nicht bezahlen. Und dann ...« Er führte den Gedanken nicht zu Ende.

»Lebensversicherung. Vielleicht haben die Verbrecher dir deswegen nichts tun können«, meinte Beth. »An dir prallen jetzt Kugeln ab wie an Superman.« Eigentlich hatte sie ihn nur aufziehen wollen, doch so, wie sie es aussprach, klang es viel ernsthafter als beabsichtigt - und genauso fasste Hunt es auch auf.

»Vielleicht«, stimmte er zu.

Vor der Tür schrie wieder ein Baby. Hinter dem Vorhang hörte man, dass leise an die Fensterscheibe geklopft wurde. Unter der Decke kuschelten Hunt und Beth sich aneinander.

»Meinst du, Jorge hört das auch?«, fragte Beth und dachte an sein Kind.

»Ich hoffe nicht«, antwortete Hunt.

3.

Es stellte sich heraus, dass die Hexe nicht wusste, wo sich die Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group befand - und ihre Fehlinformationen kosteten sie alle beinahe das Leben.

Wie vereinbart erschien Manuel kurz nach Sonnenaufgang mit vollem Tank vor dem Hotel, und sie fuhren in den Dschungel, der in der anderen Richtung lag als die Hütte der Hexe - in einer raueren, sehr viel unwirtlicheren Landschaft. Dieses Mal hatte Manuel den Pick-up seines Bruders genommen, dessen Fahrerhaus ihnen allen Platz bot: zwei von ihnen saßen vorne neben Manuel, die beiden anderen auf einer schmalen, beengten Rückbank.

Hunt hielt sich am Armaturenbrett fest, als der Pick-up durch ausgewaschene Furchen holperte und auf dem Weg in die Berge immer wieder über Felsbrocken ruckelte. Die Straße, auf der sie sich befanden, sah eher aus wie ein Wanderpfad - Hunt sah keine anderen Radspuren im Erdreich, nur zahllose Hufspuren -, doch der Pick-up schaffte es, eine steile Passhöhe zu erklimmen und dann in Serpentinen an einem Kliff entlang immer weiter hinaufzufahren. Nach einer Stunde Fahrt den Berg hinauf erreichten sie eine Lichtung, auf der ein kleiner Teich, gespeist von einer sprudelnden Quelle, von den Resten der Fundamente eines uralten Bauwerks umschlossen wurde.

Manuel trat auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Nachdem die umherspritzenden Kieselsteine zu Boden geprasselt waren, hörten sie nichts anderes mehr als das Knacken des abkühlenden Motors.