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In einem Labyrinth aus den verschiedensten Gebäuden in der Innenstadt von Tuxtla Gutierrez befand sich eine Senke, so groß wie drei Fußballfelder. Hunt sah, wie der Versicherungsvertreter mit forschem Schritt den Hang zum Grund dieser Senke hinunterspazierte. Manuel hielt an, und gemeinsam beobachteten sie, wie der Vertreter den Grund des Beckens erreichte und auf einen kleinen Steinbau zuging, der genau in der Mitte der freien Fläche errichtet war - die Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group.

Das Gebäude kam Hunt seltsam bekannt vor. Dann fiel es ihm ein: Es erinnerte ihn an den »Knast«.

An dieses scheinbar zweckfreie Gebäude hatte Hunt seit dem Tag, an dem Edward und Jorge es ihm gezeigt hatten, gar nicht mehr gedacht - doch jetzt erinnerte er sich wieder an das Grauen und das klaustrophobische Gefühl, das er und seine beiden Freunde im Innern dieses Bauwerks verspürt hatten. Hunt blickte über die Schulter zur Rückbank.

»Der Knast«, sagte Jorge und nickte. »Verdammt, ich wünschte, mein Handy würde hier funktionieren. Ich würde sofort Edward anrufen und ihm sagen, er soll sich das Ding genau ansehen!«

Sie warteten zehn Minuten, um sicher zu sein, dass der Vertreter im Gebäude blieb. Gerade als sie beschlossen hatten, aus dem Wagen zu steigen und dem Mann zu folgen, kam er wieder zum Vorschein, die Aktentasche unter dem Arm. Er stieg den gegenüberliegenden Hang hinauf, wobei er den steilen Aufstieg ohne Mühe hinter sich brachte, und verschwand in einer schmalen Straße zwischen zwei Gebäuden.

Wieder warteten Hunt und die anderen ungeduldig, endlich in das Allerheiligste dieses geheimnisvollen Unternehmens vordringen zu können.

Als Hunt sicher war, dass der Vertreter nicht zurückkehrte und dass kein Mensch ...

oder ein Etwas

... herauskam, stieg er aus. Beth und Manuel folgten ihm, und auch Joel und Jorge stiegen von der Rückbank. Zu fünft gingen sie über den Kies, blieben am Rand der Senke stehen und schauten hinunter.

Es war tatsächlich ihr gesuchtes Ziel; Hunt war sich ganz sicher. Ob man von diesem kleinen Gebäude in ein Labyrinth unterirdischer Katakomben gelangte oder ob es eine Art Raum-Zeit-Anomalie darstellte, sodass sich im Widerspruch zu allen bekannten Gesetzen der Physik in diesem kleinen Bau ein riesiges Bürogebäude befand - genau hier hatte die Insurance Group ihre Zentrale. Hier hatte sie angefangen, vor all den Jahrhunderten, und hier saß sie immer noch.

Sie.

Hunt ertappte sich dabei, die Versicherung als eigenständiges Wesen zu betrachten, als wäre die Insurance Group eine lebende, vernunftbegabte Kreatur - und das traf wahrscheinlich sogar zu. Es war kein Unternehmen im eigentlichen Sinn, das Leute einstellte und Dienstleistungen anbot. Es war eher wie ein Oktopus, ein Krake, ein lebendes Wesen mit zahlreichen Fangarmen, und wenn man einen dieser Fangarme abschlug, wuchs ein neuer nach.

Hunt hatte es bisher vermieden, darüber nachzudenken, was genau sie hier eigentlich würden tun müssen. Er hatte sich ganz darauf konzentriert, die Unsterblichkeitspolice ihres Versicherungsvertreters zu vernichten, doch jetzt, wo sie hier waren und gesehen hatten, wie der hiesige Vertreter erneut in der Stadt verschwunden war, um weiteres Unheil anzurichten, wurde Hunt klar, dass er versuchen musste, sämtliche Vertreter aufzuhalten, nicht nur den, der für ihn selbst, Beth und seine Freunde zuständig war - sonst würde ein anderer dessen Platz einnehmen, und all ihre Bemühungen wären vergebens gewesen.

Hunt gab sich nicht der Illusion hin, sie könnten problemlos in dieses kleine Gebäude hineinspazieren und Jahrhunderten des Terrors einfach ein Ende bereiten. Er hatte keine Ahnung, wie sie diesen Bau zerstören konnten. Mit Sprengstoff? Wasser? Feuer? Doch Hunt wusste, dass sie so viele Unsterblichkeitspolicen vernichten mussten, wie sie nur finden konnten, und so viele Fangarme dieses Kraken abschlagen mussten wie nur möglich.

»Schon 'ne Idee, wie wir nach da unten kommen?«, fragte Beth. »Der Kerl ist da einfach runtergegangen.«

»Für mich sieht das ein bisschen zu steil aus«, sagte Hunt.

Es sah steil aus. Doch bevor sie noch länger darüber reden konnten, hatte Manuel sich auf den Boden gesetzt und sich abgestoßen, und nun rutschte er auf den Fußsohlen den staubigen Abhang hinunter. Hunt schaute Beth an.

»Machen wir 's ihm nach«, sagte sie.

Vorsichtig rutschten Hunt und die anderen den Abhang hinunter. Als Kinder waren sie auf großen Pappkartons einen Grasabhang im Park heruntergesurft, und genau daran erinnerte ihn die Rutschpartie. Doch dieser Abhang war steinig und längst nicht so glatt wie das Gras, und man kam langsamer voran.

Am Grund der Senke angelangt, klopften Hunt und die anderen sich Staub und Dreck aus der Kleidung. Ein Stück vor ihnen erhob sich das kleine Gebäude.

Vorsichtig gingen sie weiter, schauten immer wieder zum Rand der Grube hinauf, um sich zu vergewissern, dass der Versicherungsvertreter tatsächlich nicht zurückgekehrt war und nun mit schnellen Schritten auf sie zukam. Dann endlich hatten sie das kleine Gebäude erreicht. Daneben, von oben nicht erkennbar, befand sich ein Loch im Boden, das sich als Einstieg zu einer Art Schacht erwies. Er sah aus wie der Eingang zu einer Grabkammer. Fauliger Geruch schlug ihnen aus der Tiefe entgegen - der Gestank verrottender Pilze und vermodernder Kartoffeln. Hunt erkannte ihn sofort wieder, Beth ebenso.

»Das ist es«, sagte sie.

»Ich nicht gehe da runter«, erklärte Manuel ihnen. »Ich hier auf euch warten.«

Hunt nickte. Er bezweifelte, dass er selbst für lumpige zwanzig Dollar am Tag überhaupt so weit mitgekommen wäre. Er griff in seine Gesäßtasche, zog seine Brieftasche hervor und reichte Manuel fünfzig Dollar in Scheinen und weitere hundert Dollar in Travellerschecks. Der Mann war viel mehr als nur ein Fremdenführer für sie gewesen, und so viel hatte er mindestens verdient. Hunt hätte ihm mehr gegeben, doch mehr hatte er nicht bei sich.

Manuel versuchte zu protestieren. »Nein, nein.«

Hunt drückte ihm das Geld in die Hand. »Nimm schon!«

»Wir noch nicht fertig. Ich arbeite immer noch für euch!«

Hunt schaute ihn bedeutungsvoll an. »Nur für alle Fälle, damit du nicht leer ausgehst. Du verstehst?«

Manuel blickte auf das Loch im Boden, dann zu dem kleinen Gebäude daneben. Schließlich nickte er. »Ich verstehe.«

Erneut schaute Hunt auf das kleine Steingebäude und atmete tief durch. Der Eingang schien sich auf der anderen Seite zu befinden, und Hunt zögerte noch, das Gebäude zu umrunden. Er hatte Angst, zumal sie keine Waffen bei sich trugen. Er war so besessen gewesen von dem Gedanken, die Zentrale der Insurance Group zu finden, dass er keinerlei Vorbereitungen für diese Unternehmung getroffen hatte.

Er räusperte sich. »Sag mal«, sprach er dann Manuel an, »hast du ein Messer dabei? Irgendeine Waffe?«

»So was hier?«

Hunt hatte bestenfalls ein Taschenmesser erwartet, doch der Fremdenführer zog aus einer verborgen getragenen Scheide einen Dolch mit einer Klinge von fast zwanzig Zentimetern Länge.

»Ja. Das wird reichen.«

Manuel schnallte die Scheide ab, und Hunt band sie sich mit dem Gürtel um die Taille, damit er die Hände frei hatte.

»Hast du auch Streichhölzer?«, fragte er dann.

»Ich hab ein Feuerzeug mitgebracht«, sagte Jorge. Er lächelte. »Ich hab mir schon gedacht, dass du es vielleicht vergisst.«

»Danke.« Hunt steckte sich das Feuerzeug in die Tasche. »Ich schätze, wir können los.« Jetzt, wo es so weit war, verspürte Hunt eisige Furcht.

»Ich hier warten«, versprach Manuel. »Wenn du bis Einbruch der Dunkelheit nicht zurück, ich holen Hilfe.«

»Gracias«, sagte Beth.

»Ja, danke, Manuel. Du warst wirklich unser Retter. Ohne dich hätten wir das nie geschafft.«

Jorge gab dem Fremdenführer einen Klaps auf den Rücken, dann schloss er ihn in die Arme. Joel schüttelte ihm die Hand. »Du warst uns eine große Hilfe, Manuel.«