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Er schloss die Tür des hölzernen Aktenschranks und schaute sich um. Vor ihm erstreckten sich Aktenschränke bis scheinbar in die Unendlichkeit, doch hinter ihm, am Kopf des Raumes, links von der Tür ...

... befand sich die Unsterblichkeitspolice ihres Versicherungsvertreters.

Sie war auf Pergament geschrieben und wurde unter Glas aufbewahrt, wie ein Ausstellungsstück aus einem Museum. Es gab nur sechs solcher Policen - eine für jeden Kontinent? -, und Hunt vermutete, dass es demzufolge auch nur sechs unsterbliche Vertreter gab, die auf der ganzen Erde tätig waren. Hatte es früher mehr gegeben? Und hatten diese Vertreter aus früheren Zeiten vielleicht irgendwann ihre Beiträge nicht mehr zahlen können, sodass sie beseitigt worden waren? Oder gab es insgesamt nur sechs Planstellen, und sobald diese besetzt waren, brauchte sich niemand mehr darauf zu bewerben?

Hunt wusste es nicht, und es war ihm auch egal. Die Tatsache, dass es nur sechs Vertreter gab, machte ihm die Arbeit sehr viel leichter. Er stellte sich neben den Aktenschrank und starrte das Pergament durch die Scheibe hindurch an. Dieses Dokument verlieh ihm die Macht über Leben und Tod des Versicherungsvertreters. Jetzt hatte endlich er die Oberhand. Er war es, der den Ausgang dieser Schlacht bestimmte. Was sich hinter dieser Glasscheibe befand, war nicht die unsterbliche Seele des Vertreters, es war seine Unsterblichkeitspolice. Der Vertreter hatte keine Seele, nur diese Police.

Hunt begriff, dass die Bibel recht hatte: Im Anfang war das Wort. Und das Wort war mächtiger, wichtiger und verbindlicher, als ein Körper es jemals sein konnte.

»Was ist das?«, fragte Jorge.

»Seine Lebensversicherungspolice«, antwortete Hunt. Immer noch sprachen sie nur im Flüsterton miteinander, als fürchteten sie, jemand könne sie hören.

Hunt beugte sich vor, bis er die Nase fast gegen das Glas presste. Die Bestimmungen der Police waren in einer Schrift geschrieben, die Hunt nicht kannte - sie musste noch älter sein als die Keilschrift -, doch die Form und der allgemeine Aufbau des Dokuments waren identisch mit Hunts eigener Unsterblichkeitspolice, und er sah auch die Zeile am Anfang, in der der Name des Vertreters eingetragen war.

Er hieß Ralph Harrington.

Ralph.

Das schien unglaublich, unmöglich. Der Name des Bösen konnte doch nicht so alltäglich sein, so lächerlich trivial ...

Ralph Harrington.

In gewisser Weise machte das diesen Mann, diese Bedrohung, irgendwie kleiner, verwies ihn in seine Schranken, machte ihn weniger einschüchternd. Er wirkte nicht mehr wie ein übernatürliches Wesen, sondern mehr wie ein normaler Bursche von nebenan.

Hunt musste daran denken, was Del ihm im Gefängnis erzählt hatte: dass Namen Macht verliehen - wie bei Rumpelstilzchen.

Worte. Namen. Das waren die Dinge, die wirklich wichtig waren.

Aus reiner Neugier schaute Hunt sich weiter in dem Glaskasten um und las die Namen auf den anderen Policen. Einer war entweder in chinesischen oder in japanischen Schriftzeichen eingetragen, ein weiterer auf Griechisch oder Kyrillisch. Zwei Namen waren in arabischer Schrift eingetragen. Nur bei Ralphs Namen waren lateinische Buchstaben verwendet worden. Doch all diese Namen schienen aus der Gegenwart zu stammen, und Hunt fragte sich, ob die Namen sich mit der Zeit änderten, ob sie irgendwie, auf magische Weise, stets auf dem neuesten Stand gehalten wurden - ob die jeweiligen Vertreter ihre Namen jedes Mal änderten, um stets in die aktuelle Zeit zu passen.

Doch das war egal. Jetzt hieß ihr Versicherungsvertreter auf jeden Fall »Ralph Harrington«. Das war der Name, der in die Police eingetragen war, und somit war es der Name, dem er verpflichtet war. Hunt suchte nach einem Riegel oder einem Schloss, nach irgendeiner Möglichkeit, die Vitrine zu öffnen, in der die Policen lagen, doch es gab nichts dergleichen. Schließlich ging Hunt zum nächstbesten Aktenschrank, nahm eine dicke Mappe heraus, legte sie auf die Glasscheibe und schlug dann mit der Faust auf die Mitte der Mappe, so fest er konnte.

Das Glas zersprang.

Zum Glück war es kein Sicherheitsglas, sonst hätte Hunt es womöglich nicht zerschmettern können. Er ließ die Mappe auf den Fußboden fallen, entfernte dann die größten Glassplitter und ließ auch sie fallen. Schließlich konnte er die Policen gefahrlos aus der Vitrine nehmen.

Jetzt war die Zeit der Abrechnung gekommen.

Einen Sekundenbruchteil lang zögerte Hunt. Doch dann dachte er an Jorges Kind, an Lilly, an Eileen, an all die Menschen, die wegen des Versicherungsvertreters gestorben waren oder leiden mussten. Hunt tat, was zu tun er sich vorgenommen hatte. Er legte die anderen Policen beiseite und griff nach der, die auf den Namen »Ralph Harrington« ausgestellt war.

Dann zog er das Feuerzeug aus der Tasche, ließ es aufschnappen, hielt das Pergament an der Oberkante fest und entzündete die untere rechte Ecke. Es war kein magisches Puff! zu hören, und auch nicht das verklingende Echo eines Schreies, doch das uralte Papier fing schnell Feuer und verbrannte in einer ruhigen, gleichmäßigen Flamme. Bis zum letzten Moment hielt Hunt es fest; dann ließ er es fallen. Auf dem Fußboden brannte es noch ein paar Sekunden weiter und erlosch. Nun lag auf dem Boden nur noch ein kleiner, dreieckiger Papyrusfetzen, auf dem nicht mehr das Geringste aufgedruckt war. Doch Hunt wollte kein Risiko eingehen, also hob er auch den Fetzen auf, hielt ihn erneut ans Feuerzeug und hielt es fest, bis die Flammen seine Fingerspitzen versengten und die Police völlig verbrannt war.

Hunt schaute zur Tür. Er hatte mehrere Minuten gebraucht, um die Kiste aufzubrechen, die Policen herauszunehmen und die von Ralph Harrington anzuzünden, doch Joel hielt immer noch ungestört Wache. Gerade jetzt schaute er wieder zu Hunt und nickte ihm zu, um ihm zu bedeuten, dass die Luft immer noch rein sei.

Hunt und Jorge nutzten die Gelegenheit und verbrannten auch die anderen Policen.

Niemand kam, um sie aufzuhalten. Das war das Sonderbarste: Während Hunt und Jorge eine der kostbaren Policen nach der anderen in Brand steckten, schrillten keine Alarmsirenen, und keine Sprinkleranlage reagierte auf den Rauch. Nichts geschah.

Hunt konnte es nicht begreifen. In den Vereinigten Staaten schien die Versicherungsgesellschaft jeden ihrer Schritte nachzuverfolgen, und hier, in Mexiko, konnte er einfach hereinspazieren und die Policen anzünden, die sämtliche hiesigen Vertreter am Leben hielten! Lag es daran, dass diese Männer sich ganz auf die Außenwelt konzentrierten? Oder daran, dass sie zuvor noch nie einen Eindringling in ihren (un-)heiligen Hallen gehabt hatten? Hatte es noch nie einen Verräter unter ihnen gegeben? Hatte es noch nie einen Grund gegeben, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen? Lag es daran, dass die einzelnen Vertreter ihre Kunden zu überwachen hatten und dafür verantwortlich waren, über sämtliche ihrer Schritte informiert zu sein? Oder gewährte ihm seine eigene Lebensversicherung hier völlig freie Hand? Hatte sie ihm sozusagen eine Tarnkappe geschenkt und ihm die Genehmigung erteilt, alles zu tun, was er wollte?

Plötzlich gellte ein Wutschrei.

Und dann geschah alles blitzschnell.

2.

Joel stand im Eingang des Archivs und hielt Wache, während hinter ihm Hunt und Jorge die Policen des Versicherungsvertreters und seiner bisher unsterblichen Kollegen in Brand steckten. Vor dem geistigen Auge sah Joel, wie der Vertreter zu Staub zerfiel, während seine Police verbrannte wie ein Vampir im Sonnenlicht.