Umso größer war Joels Entsetzen, als er Schritte hörte und eben diesen Versicherungsvertreter aus einem Quergang auf den Flur treten sah ...
»Du Dreckskerl!«, schrie Joel und rannte auf den Vertreter zu, der ihn jedoch ignorierte, einfach weiterging und auf der anderen Seite des Flurs wieder im Quergang verschwand. »Ich bring dich um!«, brüllte Joel.
Hunt und Jorge kamen aus dem Archiv gestürmt. Sie konnten nicht fassen, wen sie da sahen.
Den Versicherungsvertreter.
Er hätte längst tot sein müssen!
Hätte er, war er aber nicht. Tatsächlich sah er keine Spur schlechter aus als zuvor; er wirkte so kräftig und gesund wie eh und je. Wie war das möglich? Er war nicht mehr unsterblich, wenn er keine Police mehr hatte, die ihn schützte!
Der Mann hatte schon mehrere Jahrhunderte gelebt, vielleicht noch länger, und sobald seine Unsterblichkeit zunichte gemacht war, hätte er augenblicklich in seinen derzeitigen Zustand verfallen müssen. Das aber war nicht geschehen.
Weil er immer noch seine eigene Ausfertigung der Police hatte.
Das musste es sein! Das Original der Police war fort, doch solange noch ein schriftlicher Beweis existierte, solange der Vertreter noch selbst ein Schriftstück besaß, das ihm ewiges Leben garantierte, stand ihm die Versicherungsleistung zu.
Ein Stück vor ihnen verschwand der Vertreter in einem Seitenstollen in völliger Finsternis.
Joel stieß einen Wutschrei aus und kam zu Hunt und Jorge zurück. »Der Mistkerl ist entwischt!«, stieß er hervor.
»Ja«, sagte Hunt und packte seinen Freund am Arm. »Aber wir wollen nicht, dass etwas passiert, ehe wir erledigt haben, weshalb wir hierhergekommen sind.«
Joel holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. »Du hast seine Police verbrannt«, sagte er dann. »Aber der Kerl lebt immer noch. Willst du wissen, warum? Weil er immer noch eine Ausfertigung davon hat! Solange eine Ausfertigung oder Abschrift der Police existiert, ist sie noch gültig - und damit alles, wofür sie steht. Wir müssen auch seine Kopie verbrennen.«
»Du hast recht.« Hunt dachte kurz nach. »Aber wo könnte die sein? Wo würde er sie aufbewahren? In seinem Büro, zu Hause in Arizona? In seinem Haus? Hier irgendwo?«
Auf einmal erschien der Vertreter aus einem Raum ungefähr dreißig Schritt vor ihnen. Er lachte vor sich hin. Seltsamerweise hatte er seinen Aktenkoffer nicht dabei. Auch seine Kleidung war anders als üblich, viel salopper: Er hatte jetzt dienstfrei.
Wäre Joel eine Figur aus einem Cartoon gewesen, wäre jetzt über seinem Kopf eine Glühbirne erschienen. Es gab nur eine Erklärung für das plötzliche Auftauchen und Verschwinden des Versicherungsvertreters: Das hier war sein Zuhause. Er wohnte in der Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group!
Alle Vertreter dieser Versicherung wohnten hier.
Wenn sie herausfinden konnten, wo sein Zimmer war ...
»Wir müssen ihm folgen«, flüsterte Joel. »Der Kerl wohnt hier irgendwo. Und genau da wird auch seine Police sein.«
Hunt nickte. Zu dritt eilten sie den Korridor hinunter und blieben in diskretem Abstand zum Versicherungsvertreter.
Es war ein Büro, aus dem er zum Vorschein gekommen war. Im Innern sah es fast so aus wie ein Umkleideraum, wie Joel bemerkte, als er im Vorbeigehen kurz hineinschaute. Er sah lange Steinbänke, die längs in der Mitte des kleinen Raumes aufgestellt waren, und die Wände zu beiden Seiten wiesen Doppelreihen kleiner Alkoven auf. In dem Raum schien niemand zu sein.
Der Gang führte erst nach rechts, dann bog er nach links ab, und für einen Augenblick verloren sie den Vertreter aus den Augen. Sie wagten es nicht, schneller zu gehen, denn sie durften ihm nicht zu nahe kommen, obwohl die Flure hier so voller Biegungen und Kreuzungen waren. Dann endete der Korridor vor einer geschlossenen Tür.
Auf diese Tür aufgemalt, wie die Initialen an der Tür zur Umkleide eines Filmstars in alter Zeit, waren zwei Buchstaben: R. H.
»Ralph Harrington«, sagte Hunt. »Das ist er.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Jorge nervös.
»Reingehen«, entschied Hunt.
3.
Hunt legte ein Ohr an die Tür und lauschte einen Moment. Als er nichts hörte, versuchte er, den Türknauf zu drehen. Es war nicht abgeschlossen; der Knauf ließ sich leicht bewegen.
Sie betraten einen höhlenartigen Raum, erleuchtet von einer einzigen schwarzen Kerze auf einem schmiedeeisernen Ständer. In der Ecke war ein verrostetes Spülbecken aus Metall zu sehen, und in der Mitte des Raumes lag eine Matratze auf dem Fußboden; sie war so schmutzig, dass ihr Gestank die Männer würgen ließ. Hunt sah keinen Herd, keine Mikrowelle, keinen Kühlschrank.
Vielleicht aß der Versicherungsvertreter nie.
Am anderen Ende des Zimmers stand eine schwarze Vitrine, in der Dinge lagen, bei denen es sich vermutlich um Trophäen handelte: Knochen verschiedener Wildtiere, vertrocknete Pflanzen und andere tote Dinge aus der Gegend um Tucson. Hunt dachte an den Raum mit den bleichen Schädeln zurück, und an das gehäutete Maultier, und mit einem Mal wusste er, was es damit auf sich hatte.
Pergament.
Die Insurance Group hatte eigene Gerberäume, in denen die Pergamente für ihre wichtigsten Policen hergestellt wurden.
Hunt schaute sich noch einmal die Vitrine mit den scheußlichen Überresten an, vor der sie standen. Es war gut möglich, dass der Versicherungsvertreter hier in diesem Raum in kleinerem Maßstab selbst Pergament herstellte. Zur Entspannung nach Dienstschluss sozusagen.
Vom Vertreter selbst fanden die Männer keine Spur, doch rechts neben der Vitrine war eine kleine Holztür, die an den Zugang zu einem kleinen Nebenraum erinnerte - oder an ein Toilettenhäuschen. Hunt war sich fast sicher, dass der Vertreter sich darin aufhielt.
Wie um seine Vermutung zu bestätigen, war jetzt ein sonderbares Knarren hinter der Tür zu vernehmen.
Sofort drängten die drei sich zusammen. »Sucht nach einem Aktenschrank«, flüsterte Hunt. »Oder einem Schreibtisch. Irgendetwas, wo er seine Papiere verstecken könnte.«
Es war zu dunkel, als dass die Männer sich hätten aufteilen können, also nahm Joel die Kerze aus dem Ständer und ging zusammen mit den anderen von links nach rechts durch den Raum. Sie sahen einen alten Victrola-Plattenspieler, Taljen aus der Takelage eines Schoners, ein Schwert und ein Bajonett, die gegen einen mannshohen Spiegel gelehnt waren - jedoch nichts, was danach aussah, als könne man wichtige Dokumente darin aufbewahren.
Dann flammte plötzlich das Licht auf, und der Raum veränderte sich.
Jetzt war es keine Höhle mehr, angefüllt mit Erinnerungsstücken aus der Vergangenheit, sondern ein modernes, aufgeräumtes Apartment, das mindestens doppelt so groß war wie der Raum, in dem die Männer sich gerade noch befunden hatten.
Dort, wo die Victrola gestanden hatte, war jetzt ein großer Plasmafernseher zu sehen, und statt der schwarzen Vitrine stand da jetzt ein begehbarer Kleiderschrank voller sauberer, maßgeschneiderter Anzüge aus verschiedenen Zeitaltern. Die dreckige Matratze war einem weißen, modernen Sofa gewichen, das zum Fernseher hin ausgerichtet war, und die geschlossene Tür, die zum Toilettenhäuschen führte, hatte sich in einen breiten, bogenförmigen Durchgang verwandelt, durch den man ein geräumiges Schlafzimmer mit Hellholzmöbeln erkennen konnte. Eine weitere Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Apartments führte in eine voll ausgestattete Küche mit modernsten Edelstahlarbeitsflächen.
Und zu ihrer Rechten, unter einem gerahmten Chagall Kunstdruck, standen ein Computerschreibtisch und ein Aktenschrank.
Hunt durchwühlte hastig die Schubladen des Schreibtischs. Stifte ... Papier ... Gummibänder ... Büroklammern ... Disketten ...
Aus Richtung des Schlafzimmers war mit einem Mal das Rauschen einer Toilettenspülung zu hören. Der Vertreter hatte offenbar seinen Aufenthalt im Bad beendet. Deshalb also waren die Lichter aufgeflammt! Vermutlich würde der Mann jeden Augenblick hier im Zimmer erscheinen.