George R. R. Martin
Fiebertraum
FÜR HOWARD WALDROP
einen phantastischen Schriftsteller,
einen phantastischen Freund
und einen fiebernden Träumer, wie es nie einen gab.
KAPITEL EINS
Abner Marsh schlug mit dem Knauf seines Hickoryspazierstocks scharf auf das Hotelpult, um den Angestellten auf sich aufmerksam zu machen. »Ich bin hier mit einem Mann namens York verabredet«, sagte er. »Josh York, so nennt er sich, glaube ich. Gibt es hier einen solchen Gast?«
Der Angestellte war ein älterer Mann mit Brille. Er zuckte bei dem Klopfen zusammen, dann wandte er sich um, entdeckte Marsh und lächelte. »Hallo, das ist ja Cap’n Marsh«, sagte er liebenswürdig. »Ich hab’ Sie ja seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, Cap’n. Habe aber trotzdem von Ihrem großen Pech gehört. Schlimm, ganz einfach schlimm. Ich bin schon seit ’36 hier, aber soviel Packeis habe ich bisher noch nie gesehen.«
»Lassen Sie es gut sein«, antwortete Abner Marsh unwirsch. Er hatte mit solchen Kommentaren gerechnet. Das Planters’ House war unter den Dampfbootleuten eine beliebte Herberge. Marsh selbst hatte dort vor jenem grausamen Winter regelmäßig gespeist. Aber seit dem Packeis hatte er sich davon ferngehalten, und nicht nur wegen der Preise. So gerne er das Essen im Planters’ House mochte, so wenig erpicht war er auf die Gesellschaft, die er dort antraf: Lotsen und Kapitäne und Maate, allesamt Flußleute, alte Freunde und alte Rivalen, und sie alle wußten von seinem Mißgeschick. Abner Marsh wollte kein Mitleid. »Verraten Sie mir nur, wo Yorks Zimmer ist«, forderte er den Angestellten bestimmt auf.
Der Angestellte wackelte nervös mit dem Kopf. »Mister York ist nicht in seinem Zimmer, Cap’n. Sie treffen ihn im Speisesaal, wo er seine Mahlzeit einnimmt.«
»Jetzt? Um diese Zeit?« Marsh blickte auf die reich verzierte Hoteluhr, dann öffnete er die Messingknöpfe seines Rockes und zog seine eigene goldene Taschenuhr hervor. »Zehn Minuten nach Mitternacht«, stellte er ungläubig fest. »Er ißt, haben Sie gesagt?«
»Ja, Sir. Das tut er. Er sucht sich seine eigenen Zeiten aus, dieser Mister York, und er ist keiner von der Sorte, der man etwas verweigert.«
Abner Marsh erzeugte einen unfreundlichen Laut tief in seiner Kehle, steckte seine Uhr wieder in die Tasche und wandte sich wortlos um und entfernte sich mit langen, festen Schritten durch die prachtvoll ausgestattete Hotelhalle. Er war ein großer Mann und nicht gerade der geduldigste, und er war an geschäftliche Treffen um Mitternacht nicht gewöhnt. Er trug seinen Spazierstock mit lässiger Gebärde, als hätte er nie einen Rückschlag erlebt und als wäre er noch immer der Mann, der er einmal gewesen war.
Der Speisesaal war fast genauso erhaben und luxuriös wie der Hauptsalon auf einem Dampfboot, mit Kronleuchtern aus geschliffenem Glas und polierten Messingarmaturen und Tischen, die mit feinstem Leinen und bestem Porzellan und Kristall gedeckt waren. Während der normalen Stunden hätten an diesen Tischen scharenweise Reisende und Dampfbootleute gesessen, aber nun war der Raum leer, die meisten Lampen waren gelöscht. Vielleicht ließ sich doch etwas Positives über solche mitternächtlichen Treffen sagen, überlegte Marsh; wenigstens brauchte er sich keine Beileidsbezeugungen gefallen zu lassen. Unweit der Küchentür standen zwei farbige Kellner und unterhielten sich leise. Marsh beachtete sie nicht und ging zum anderen Ende des Saales, wo ein gepflegt gekleideter Fremder saß und alleine speiste.
Der Mann mußte gehört haben, wie er näher kam, aber er blickte nicht auf. Er war damit beschäftigt, Mockturtle‐Suppe aus einer Porzellanschüssel zu löffeln. Der Schnitt seines langen schwarzen Rockes machte deutlich, daß er kein Flußmann war; dann wohl einer aus dem Osten oder vielleicht jemand aus Übersee. Marsh sah, daß er groß war, wenngleich auch bei weitem nicht so groß wie Marsh; sitzend vermittelte er den Eindruck von Höhe, aber er hatte nicht Marsh’ Statur. Zuerst hielt Marsh ihn für einen alten Mann, denn seine Haare waren weiß. Dann, als er näher kam, erkannte er, daß sie gar nicht weiß waren, sondern von einem sehr fahlen Blond, und plötzlich machte der Fremde einen fast jungenhaften Eindruck. York war glattrasiert, und seine Haut war so hell wie sein Haar. Er hatte Hände wie eine Frau, dachte Marsh, als er vor dem Tisch stand.
Er klopfte mit seinem Stock auf den Tisch. Die Tischdecke dämpfte das Geräusch und ließ es wie ein leises Pochen erklingen. »Sind Sie Josh York?« fragte er.
York blickte auf, und ihre Augen trafen sich.
Bis zum Ende seiner Tage würde Abner Marsh sich an diesen Moment erinnern, an diesen ersten Blick in die Augen von Joshua York. Was immer er an Gedanken gehabt hatte, was immer die Pläne waren, die er geschmiedet hatte, alles wurde von dem Maelstrom in den Augen von Joshua York aufgesogen. Junge und alter Mann und Dandy und Fremder, all dies war im Nu verschwunden, und da war nur noch York, der Mann selbst, die Macht in ihm, der Traum, die Kraft, die Stärke.
Yorks Augen waren grau, erstaunlich dunkel in einem so blassen Gesicht. Seine Pupillen waren stecknadelkopfgroß, brannten schwarz, und sie drangen in Marsh ein und erforschten seine Seele bis auf den Grund. Das Grau um sie herum schien lebendig zu sein, es bewegte sich wie Nebel auf dem Fluß in einer finsteren Nacht, wenn das Ufer verschwindet und die Lichter verblassen und dann nichts mehr da ist auf der ganzen Welt außer dem Boot und dem Fluß und dem Nebel. In diesem Nebel sah Abner Marsh Dinge; Visionen, eben noch geschaut und schon wieder verschwunden. Eine kalte Intelligenz starrte aus diesen Nebelschwaden heraus. Aber da war auch ein Raubtier, düster und furchteinflößend, angekettet und rasend, den Nebel verfluchend. Gelächter und Einsamkeit und grausame Leidenschaft. York hatte all das in seinen Augen.
Aber am meisten war Macht in diesen Augen, eine schreckliche Macht, eine Kraft so unbarmherzig und gnadenlos wie das Eis, das Marsh’ Träume zerquetscht hatte. Irgendwo in diesem Nebel spürte Marsh, wie das Eis sich bewegte, langsam, so langsam, und er konnte das furchtbare Splittern seiner Boote und das Zerbrechen seiner Träume hören.
Abner Marsh hatte sich schon mit vielen Männern in seinem Leben Blickduelle geliefert, und er hielt dem Blick lange stand. Dabei krampfte seine Hand sich so fest um den Spazierstock, daß er befürchtete, er würde ihn in zwei Teile zerbrechen. Aber am Ende senkte er den Blick.
Der Mann am Tisch schob seine Suppe beiseite, machte eine Geste und meinte: »Cap’n Marsh. Ich habe Sie erwartet. Bitte leisten Sie mir Gesellschaft.« Seine Stimme klang weich, gebildet, leicht.
»Ja«, sagte Marsh, ebenfalls leise und sanft. Er zog sich den Stuhl York gegenüber heran und setzte sich. Marsh war ein massiger Mann, eins achtzig groß und etwa dreihundert Pfund schwer. Er hatte ein rotes Gesicht und einen dichten schwarzen Bart, den er trug, um dahinter eine flache, eingeschlagene Nase zu verbergen und ein Gesicht voller Warzen, aber nicht einmal der Bart half viel dabei; sie nannten ihn den häßlichsten Mann auf dem Fluß, und er wußte es. In seinem schweren blauen Kapitänsrock mit seiner Doppelreihe Messingknöpfe war er eine furchteinflößende imposante Gestalt.
Aber Yorks Augen hatten ihm jeden Impuls zum Widerspruch geraubt. Der Mann war ein Fanatiker, entschied Marsh. Er hatte Augen wie diese schon früher gesehen, bei Wahnsinnigen und die Hölle beschwörenden Predigern und einmal im Gesicht des Mannes namens John Brown unten im verdammten Kansas. Marsh wollte nichts zu tun haben mit Fanatikern, mit Predigern und Abolitionisten und Abstinenzlern.
Aber als York zu reden begann, klang er gar nicht wie ein Fanatiker. »Mein Name ist Joshua Anton York, Captain. J. A. York im Geschäft und Joshua für meine Freunde. Ich hoffe, wir beide werden irgendwann zu Geschäftspartnern und Freunden.« Seine Stimme klang herzlich und vernünftig.