»Sie hätten mich darum bitten können«, sagte Marsh. »Sie hätten mir auch die gottverdammte Wahrheit sagen können.«
»Ich wußte nicht, ob Sie mitgekommen wären, mein Volk zu retten. Ich wußte aber, daß Sie ihretwegen sofort mitgehen würden.«
»Ich wäre Ihretwegen mitgegangen, verdammt noch mal. Wir sind Partner, oder nicht? Nun, sind wir das nicht?«
Joshua York sah ihm ernst in die Augen. »Jawohl«, sagte er.
Marsh blickte hinauf zu der grauen verrotteten Ruine, die früher seine stolze Lady gewesen war, und sah, daß ein verdammter Vogel sein Nest in einem ihrer Schornsteine gebaut hatte. Andere Vögel waren da und flatterten von Baum zu Baum und gaben Zwitscherlaute von sich, die Abner zu verspotten schienen. Das Licht der Morgensonne fiel in hellgelben Strahlen auf den Dampfer, wurde durch das Laub der Bäume gefiltert und wimmelte von Staubkörnchen. Die letzten Schatten stahlen sich davon und verschwanden im Unterholz. »Warum, zum Teufel, jetzt?« fragte Marsh und musterte York erneut stirnrunzelnd. »Wenn es nicht um die Natchez und die Robert E. Lee geht, worum geht es dann? Was unterscheidet diesen Tag von den letzten dreizehn Jahren, daß Sie mir plötzlich einen Brief schreiben?«
»Cynthia ist schwanger«, sagte Joshua. »Mit meinem Kind.«
Abner erinnerte sich an die Dinge, die York ihm vor so langer Zeit erzählt hatte. »Ihr habt gemeinsam jemanden getötet.«
»Nein. Zum erstenmal in der Geschichte unseres Volks erfolgte die Empfängnis ohne Beteiligung des roten Durstes. Cynthia trinkt mein Elixier schon seit mehreren Jahren. Sie wurde sexuell … empfänglich … sogar ohne das Blut, ohne das Fieber. Ich reagierte. Es war überwältigend, Abner. So stark wie der Durst, aber anders, reiner. Ein Durst nach Leben, und nicht nach Tod. Sie wird sterben, wenn ihre Zeit kommt, wenn Ihr Volk nicht helfen kann. Und das würde Julian niemals gestatten. Und dann ist da noch das Kind, an das man denken muß. Ich will nicht, daß es verdorben wird, daß Damon Julian es unterwirft. Ich möchte, daß seine Geburt ein neuer Anfang für unsere Rasse wird. Ich mußte etwas unternehmen.«
Ein gottverdammtes Vampirbalg, dachte Abner Marsh. Er sollte Damon Julian wegen eines Kindes gegenübertreten, das vielleicht genauso wurde wie Julian. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde es so wie Joshua. »Wenn Sie irgend etwas unternehmen wollen«, sagte Marsh, »warum sind wir dann nicht längst dort drin, anstatt hier draußen herumzuquatschen?« Er wies mit der Gewehrmündung auf den riesigen gestrandeten Dampfer.
Joshua York lächelte. »Die Lüge tut mir leid«, sagte er. »Abner, einen zweiten wie Sie gibt es nicht. Ich bedanke mich bei Ihnen.«
»Lassen Sie es gut sein«, knurrte Marsh unwirsch und reagierte verlegen auf Joshuas Dankbarkeit. Er verließ den Schatten unter den Bäumen und ging auf die Fiebertraum und auf die verrotteten, mit roten Flecken übersäten Indigotanks zu, die hinter ihr aufragten. Als er zum Wasser gelangte, schnappte der Schlamm nach seinen Stiefeln und gab obszöne schmatzende Geräusche von sich, als er sie herauszog. Marsh vergewisserte sich noch einmal, daß das Gewehr geladen war. Dann fand er eine alte verwitterte Planke im seichten stillen Wasser, lehnte sie gegen den Rumpf und kletterte mit ihrer Hilfe auf das Hauptdeck des Dampfschiffs. Joshua York, der sich geschmeidig und lautlos bewegte, folgte ihm.
Vor ihnen ragte die breite Treppe auf und führte in die Dunkelheit des Kesseldecks zu den mit Vorhängen versehenen Kabinen, wo ihre Feinde schliefen, und weiter zu der hallenden Weite des großen Salons. Marsh ging nicht sofort weiter. »Ich möchte mir meinen Dampfer anschauen«, sagte er schließlich, und er ging um die Treppe herum zum Maschinenraum.
Lötnähte waren bei einigen Kesseln gerissen. Rost hatte sich durch die Dampfleitungen gefressen. Die großen Maschinen waren braun und blätterten stellenweise ab. Marsh mußte vorsichtig auftreten, damit sein Fuß nicht durch ein verfaultes Bodenbrett brach. Er ging zu einem Ofen. Darin lag kalte Asche und noch etwas anderes, etwas Braunes und Gelbes, stellenweise Schwarzes. Er griff hinein und holte einen Knochen heraus. »Knochenreste in der Feuerung«, sagte er. »Das Deck durchgefault. Die Eisen für die Sklaven immer noch auf dem Deck verschraubt. Rost. Verdammt. Verdammt noch mal!« Er wandte sich um. »Ich habe genug gesehen.«
»Ich hatte Sie gewarnt«, sagte Joshua York.
»Ich wollte sie sehen.« Sie gingen zurück in den Sonnenschein auf dem Vorderdeck. Marsh blickte zurück auf die Schatten, auf die Schatten all dessen, was sie einst gewesen war und wovon er in den Jahren geträumt hatte. »Achtzehn große Kessel«, sagte er heiser. »Whitey hat die Maschinen geliebt.«
»Abner, kommen Sie! Wir müssen erledigen, weswegen wir gekommen sind.«
Sie stiegen die breite Treppe hinauf und bewegten sich dabei vorsichtig. Der Schleim auf den Stufen stank bestialisch und war schlüpfrig. Marsh stützte sich zu schwer auf einen mit Schnitzereien verzierten Pfosten, und er brach ihm unter der Hand weg. Die Promenade war grau und verlassen und wirkte unsicher. Sie betraten die Hauptkabine, und Marsh sah sich einem hundert Meter langen Saal voller Verfall und Tristheit und zugrunde gegangener Schönheit gegenüber. Der Teppich war voller Flecken und zerrissen und stellenweise aufgefressen vom Moder und Schimmelpilz. Grüne Flecken breiteten sich darauf aus wie Krebsgeschwülste, die die Seele des Dampfers auffressen wollten. Jemand hatte das Oberlicht übermalt, hatte das gesamte bunte Glas mit schwarzer Farbe gestrichen. Es war dunkel. Die lange marmorne Bar war mit Staub bedeckt. Kabinentüren hingen zerbrochen und zerschmettert in den Angeln. Ein Leuchter war herabgestürzt. Sie umrundeten den Haufen Glasscherben. Ein Drittel der Spiegel war gesprungen oder fehlte ganz. Der Rest war blind geworden, die Silberbeschichtung löste sich ab oder färbte sich schwarz.
Als sie zum Sturmdeck hinaufstiegen, war Marsh froh, die Sonne wieder zu sehen. Er überprüfte erneut sein Gewehr. Das Texasdeck befand sich über ihnen; die Kabinentüren waren geschlossen und warteten. »Ist er noch immer in der Kapitänskabine?« fragte Marsh. Joshua nickte. Sie stiegen über die kurze Treppe vollends auf das Texasdeck und gingen auf die betreffende Tür zu.
Im Schatten der Texasveranda wartete Sour Billy Tipton auf sie. Wären nicht seine Augen gewesen, hätte Abner Marsh ihn niemals wiedererkannt. Sour Billy war genauso heruntergekommen wie das Schiff. Er war schon immer sehr mager gewesen. Doch nun war er nicht mehr als ein lebendes Skelett, dessen scharfe Knochen sich durch die gelbe Haut drückten. Die Haut sah aus, als wäre sie jahrelang der Witterung ausgesetzt gewesen. Das Gesicht war ein verfluchter Schädel, ein gelblicher Schädel mit Pockennarben. Fast alle Haaren waren ihm ausgefallen, und der Kopf war mit Schorf und leuchtendroten Flecken rohen Fleisches übersät. Bekleidet war er mit schwarzen Lumpen, und seine Fingernägel waren mindestens zehn Zentimeter lang. Nur die Augen waren noch dieselben: eisfarben und irgendwie fiebernd, starrend. Sie versuchten einzuschüchtern, wollten aussehen wie Vampiraugen, so wie Julian sie hatte. Sour Billy hatte gewußt, daß sie kamen. Er mußte sie gehört haben. Als sie um die Ecke bogen, war er da, hielt sein Messer in der Hand, in seiner tödlichen, erfahrenen Hand. Er sagte: »Nun …«
Abner Marsh spannte die Schrotflinte und feuerte beide Läufe ab, mitten auf seine Brust. Marsh wartete nicht erst auf das zweite ›Nun‹. Diesmal nicht. Das Gewehr brüllte auf, schlug hart zurück und rammte schmerzhaft Marshs Arm. Sour Billys Brust färbte sich an hundert Stellen rot, und der Aufprall warf ihn nach hinten. Das verfaulte Geländer der Texasveranda gab hinter ihm nach, und er krachte hinunter auf das Sturmdeck. Das Messer immer noch in der Hand haltend, versuchte er auf die Füße zu kommen. Er schwankte und stolperte benommen vorwärts wie ein Betrunkener. Marsh sprang ihm nach, auf das Sturmdeck hinunter, und lud das Gewehr nach. Sour Billy griff nach seiner Pistole, die ihm aus dem Hosenbund ragte. Marsh verpaßte ihm zwei weitere Ladungen und blies ihn regelrecht vom Sturmdeck hinunter. Die Pistole entfiel seiner Hand, und Abner hörte Billy aufschreien und auf irgend etwas unten aufschlagen. Er blickte hinab auf das Vorderdeck. Billy lag dort mit dem Gesieht auf den Holzbohlen, der Körper war unnatürlich verrenkt, und ein roter Fleck breitete sich unter ihm aus. Er hielt immer noch das verdammte Messer umklammert, aber es sah so aus, als könnte er damit nicht mehr allzuviel Schaden anrichten. Abner Marsh knurrte, holte zwei frische Patronen aus der Tasche und drehte sich zum Texasdeck um.