Joshua York blickte auf und lächelte matt. »Nein.«
»Verdammte Hölle, du sturer Narr! Tu, was ich dir sage! Ich bin ein alter Mann, mein Leben bedeutet mir nichts mehr. Joshua, hör auf mich!«
Joshua schüttelte den Kopf und barg das Gesicht wieder in den Händen.
Die Bestie betrachtete Marsh mit einem seltsamen Ausdruck, als könne sie seine Worte nicht begreifen, als hätte sie vergessen, was Sprache ist und was sie bedeutet. Marsh schaute in diese Augen und erschauerte. Der Arm schmerzte ihn, und Tränen wallten hinter seinen Augen auf. Er fluchte halblaut, bis sein Gesicht rot anlief. Das war besser, als zu weinen wie eine verdammte Frau. Dann erhob er wieder die Stimme: »Du warst ein ganz wunderbarer Partner, Joshua. Ich werde dich nie vergessen, solange ich lebe!«
York lächelte. Sogar dieses Lächeln wirkte gequält. Joshua wurde sichtlich schwächer. Das Licht würde ihn töten, und dann wäre Marsh ganz allein.
Noch hatten sie Stunden um Stunden Tageslicht vor sich. Aber Stunden verstrichen irgendwann, dann würde die Nacht anbrechen. Abner Marsh konnte sie genausowenig aufhalten, wie er sein Gewehr erreichen konnte. Die Sonne würde untergehen, und Dunkelheit würde die Fiebertraum zudecken, und das Tier würde sich aus seinem Sessel erheben. Die Türen zum großen Salon würden sich öffnen, und alle anderen würden erscheinen, alle Kinder der Nacht, die Vampire, die Söhne und Töchter und die Sklaven des Tiers. Hinter zerbrochenen Spiegeln und verblichenen Gemälden würden sie hervorkommen, stumm, mit einem kalten Grinsen in den Gesichtern und mit grauenvollen Augen. Einige waren Joshuas Freunde, und eine Frau trug sogar sein Kind unter dem Herzen, aber Abner Marsh wußte, daß das keinen Unterschied machte. Sie gehörten dem Tier. Joshua hatte die Worte und das Recht und seinen Traum, aber das Tier hatte die Macht, und es würde das Tier wecken, das in den anderen lebte, und ihren roten Durst und sie seinem Willen unterwerfen. Selbst hatte es keinen Durst mehr, aber es erinnerte sich noch daran.
Und wenn sich diese Türen öffneten, dann mußte Abner Marsh sterben. Damon Julian hatte davon gesprochen, ihn zu verschonen, aber das Tier war nicht an Julians Versprechen gebunden, es wußte, wie gefährlich Marsh war. Häßlich oder nicht, Marsh würde ihnen in dieser Nacht als Nahrung dienen. Und Joshua würde genauso sterben oder — was schlimmer wäre — so werden wie sie. Und sein Kind würde heranwachsen zu einer jungen Bestie, und die Morde würden weitergehen, und der rote Durst würde ungestillt die Jahrhunderte überdauern, und die Fieberträume würden das nackte Grauen säen.
Wie sollte es auch anders enden? Das Tier war stärker als sie, war eine Macht der Natur. Die Bestie war wie der Fluß, ewig. Sie hatte keine Zweifel, keine Gedanken, keine Träume und keine Pläne. Joshua York mochte Damon Julian überwältigen, doch wenn er fiel, dann kauerte da schon das Tier: lebendig, unzähmbar, stark. Joshua hatte seine eigene Bestie betäubt und seinem Willen unterworfen. Daher konnte er dem Tier nur mit seiner Menschlichkeit entgegentreten. Und Menschlichkeit reichte nicht aus. Er konnte nicht gewinnen.
Abner Marsh runzelte die Stirn. Irgend etwas in seinen Gedanken störte ihn. Er versuchte, herauszufinden, was es war, aber es entzog sich ihm. Der Arm schmerzte. Er wünschte, er hätte etwas von Joshuas verdammtem Elixier. Es schmeckte wie die Hölle, aber Joshua hatte einmal gesagt: daß Laudanum darin sei, und das würde wenigstens die Schmerzen betäuben. Und der Alkohol würde ihm auch nicht schaden.
Der Winkel der durch das zerstörte Oberlicht einfallenden Lichtstrahlen hatte sich verändert. Es war Nachmittag, rechnete Marsh nach. Nachmittag und sehr viel später. Ein paar Stunden standen ihm noch bevor. Er sah zu Julian hinüber, dann auf das Gewehr. Er drückte seinen Arm, als könnte er damit seine Schmerzen vermindern. Woran dachte er? Er wollte Joshuas Elixier für seinen verdammten Arm … nein, an das Tier und daß Joshua es niemals würde besiegen können …
Abner Marshs Augen verengten sich, und er blickte hinüber zu Joshua. Er hatte ihn besiegt. Ein einziges Mal, trotz des Tiers. Warum sollte er es nicht wieder schaffen? Marsh packte seinen Arm, schaukelte vor und zurück und versuchte, den Schmerz zu vertreiben, damit er klarer denken konnte. Warum, warum, warum?
Und es wurde ihm klar. Vielleicht war er etwas langsam, aber Abner Marsh vergaß nie etwas. Das Getränk, dachte er. Er sah, wie es gewesen war. Er hatte Joshua den letzten Rest eingeflößt, als er in der Sonne ohnmächtig geworden war. Der letzte Tropfen war auf seinen Stiefel gefallen, und er hatte die Flasche in den Fluß geworfen. Joshua war Stunden später aufgebrochen, und er hatte … wie lange? … Tage gebraucht, um zur … Fiebertraum zurückzukehren. Er war gerannt, wollte an seine verdammten Flaschen heran, floh vor dem roten Durst. Dann hatte er den Dampfer gefunden und alle die Toten und hatte angefangen, die Bretter loszureißen, und Julian war gekommen … Marsh erinnerte sich an Joshuas Worte … Ich habe ihn angeschrien. Ich wollte Rache. Ich wollte ihn töten, wie ich noch nie jemanden hatte töten wollen, ich wollte ihm die Kehle aufreißen, wollte sein verdammtes Blut schmecken! Meine Wut … Nein, dachte Marsh, nicht nur Wut. Durst. Joshua hatte es nicht erkannt, aber er hatte die ersten Stadien des roten Durstes durchlebt! Er mußte ein Glas von seinem Elixier getrunken haben, sobald Julian sich zurückgezogen hatte, daher hatte er gar nicht begriffen, was es gewesen war.
Marsh fröstelte und fragte sich, ob Joshua den wahren Grund kannte, weshalb er die Bretter losgerissen hatte. Was wäre geschehen, wenn Julian ihn nicht gestört hätte? Damals hatte Joshua gewonnen, und danach nicht mehr. Seine Verbrennungen, seine Angst, das Blutvergießen um ihn herum, tagelang kein Elixier … Es mußte der rote Durst gewesen sein. In jener Nacht war sein Tier erwacht, und es war stärker als das Julians.
Abner Marsh spürte eine kurze Erregung. Dann dämmerte ihm, daß seine wilden Hoffnungen vergeblich und fehl am Platze waren. Joshua hatte bei seiner letzten Flucht einen beträchtlichen Vorrat von seinem Getränk mitgenommen. Er hatte noch in New Orleans eine halbe Flasche geleert, ehe sie sich auf den Weg zu Julians Plantage gemacht hatten. Marsh sah keine Möglichkeit, das Fieber in Joshua zu wecken, dabei war das Fieber die einzige Chance … Seine Augen richteten sich wieder auf das Gewehr. »Verdammt«, murmelte er. Vergiß die Flinte, sagte er sich, es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Es war wie bei einem Dampfschiffrennen. Man konnte ein schnelleres Boot nur mit List besiegen, wenn man zum Beispiel alle Abkürzungen und deren Beschaffenheit kannte, oder wenn man alles Buchenholz für sich reservierte, damit das andere Schiff nur mit Cottonwood heizen konnte, oder wenn man noch etwas Talg in Reserve hatte. Tricks!
Marsh verzog finster das Gesicht. Er wußte, daß er nichts tun konnte. Es kam allein auf Joshua an. Nur Joshua verbrannte von Minute zu Minute und wurde immer schwächer. Und er würde sich nicht rühren, solange Marshs Leben in Gefahr war. Wenn er Joshua doch nur aufrütteln könnte … seinen Durst wecken könnte … irgendwie. Der Durst meldete sich, wenn man nicht von dem Elixier trank. Aber wie ließ er sich außerdem noch wecken? Vielleicht hatte es etwas mit Wut zu tun, aber reichte das aus? Schönheit? Schöne Dinge verführten, lockten ihn, sogar wenn er sein Elixier getrunken hatte. Wahrscheinlich hat er mich als Partner ausgesucht, weil man ihm erzählt hatte, ich sei der häßlichste Mann auf dem gottverdammten Fluß, dachte Marsh. Aber auch das war nicht genug. Verdammt, Damon Julian war schön genug, und er hatte Joshua furchtbar in Wut gebracht, aber Joshua hatte verloren, verlor immer, sein Getränk sorgte dafür, es mußte … Marsh erinnerte sich an alle Geschichten, die Joshua ihm erzählt hatte, von den Morden. Den dunklen Nächten. Den furchtbaren Zeiten, als der rote Durst seinen Leib und seine Seele beherrscht hatte.